1'370'536'875 Chinesinnen und Chinesen

publiziert: Dienstag, 3. Mai 2011 / 10:00 Uhr / aktualisiert: Dienstag, 3. Mai 2011 / 14:44 Uhr
Wachstums gebremst aber Run auf die Städte: China (im Bild Shanghai)
Wachstums gebremst aber Run auf die Städte: China (im Bild Shanghai)

Vor einem halben Jahr strömten sechseinhalb Millionen Volkszähler in ganz China aus und nahmen in mehr als 400 Millionen Haushalten während zehn Tagen den numerischen Puls der Nation. Was früher noch Jahre brauchte, geht heute, dank Computern, ruckzuck, sozusagen.

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Nach nur sechs Monaten bereits verkündete der oberste Statistiker der Nation und Chef des «Nationalen Statistischen Bueros» (NSB), Ma Jiantang, das Resultat. Am Stichtag, dem 1. November 2010, lebten in China die «abtrünnige Provinz» Taiwan sowie die Sonderverwaltungszonen Macao und Hongkong eingeschlossen exakt 1'370'536'875 Menschen. Für Nicht-Statistiker und mithin verständlicher ausgedrückt sind das rund 1,37 Milliarden Chinesinnen und Chinesen. Das sind 73,9 Millionen mehr als vor zehn Jahren. Der Zuwachs entspricht ungefähr der Bevölkerung der Türkei und ist weit mehr als die Bevölkerungen Frankreichs oder Grossbritanniens.

Das Ergebnis ist leicht geringer als erwartet. 1,4 Milliarden war die Zahl, die allgemein von Ökonomen, Bevölkerungswissenschaftlern, Parteikadern und Regierungsbeamten prognostiziert worden war. Neunmalkluge, besonders unter den ausländischen Medienleuten, operierten mit noch höheren Zahlen, weil erstens chinesischen Statistiken prinzipiell nicht akkurat zusammengestellt seien und zweitens aus politischen und sozialen Gründen eine möglichst niedrige Zahl ausgewiesen werden sollte. Das ist natürlich blanker Unsinn, leider auch verbreitet in westlichen Medien, die behaupten, «Qualitäts-Journalismus» zu betreiben.

Tatsache ist, dass heute jede Regierung und zumal jene von wirtschaftlichen Grossmächten ohne glaubwürdige Zahlen nicht mehr auskommt. Das gilt besonders für China. Die Zentralregierung hat deshalb im Vorfeld des alle zehn Jahre durchgeführten Zensus alles unternommen, um Bedenken in der Bevölkerung zu zerstreuen. Religion und Einkommen wurden beispielshalber nicht abgefragt. Auch in Reich der Mitte gibt es, ob man es glaubt oder nicht, ein wenig Privatsphäre und Datenschutz.

NSB-Chef Ma Jiantang fasste das Resultat griffig zusammen: Chinas Bevölkerung zeige nach dreissig Jahren Ein-Kind-Familienpolitik ein merklich gebremstes Bevölkerungswachstum, eine schnelle Überalterung, eine rasante Verstädterung sowie eine stark wachsende Zahl von Wanderarbeitern. Positiv wird insbesondere die markant verbesserte Erziehung unterstrichen mit einer erstaunlich hohen Alphabetisierungsrate von 96 Prozent.

Die Ein-Kind-Familienpolitik wurde zu Beginn der Reform 1980 eingeführt. Zuvor galt das von Staatsgründer Mao Dsedong deklarierte Prinzip «je mehr, desto besser». Der «Grosse Steuermann» Mao apostrophierte in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts deshalb die Atommacht USA als «Papier-Tiger» mit dem Argument, dass China ohne weiteres einige Dutzend Millionen oder mehr Menschen bei einem atomaren Angriff verlieren könne. Kein Problem, meint Mao. Statistisch gesehen verdoppelte sich die Bevölkerungszahl in den dreissig Jahren von der Gründung der Volksrepublik 1949 bis zu Reform-Beginn 1979 fast von rund 530 auf rund 990 Millionen Menschen.

Reform-Übervater Deng Xiaoping erkannte, dass die Früchte der Wirtschaftsreform durch ungebremstes Wachstum zunichte gemacht würden. Die Ein-Kind-Familienpolitik ein Kind in der Stadt, zwei Kinder auf dem Land, drei Kinder für Nationale Minderheiten wurde eingeführt. Mit durchschlagendem Erfolg. Statistisch gesehen wuchs die Bevölkerung in den letzten dreissig Jahren von rund 990 Millionen auf 1,37 Milliarden. Anders ausgedrückt: ohne die Ein-Kind-Familienpolitik wäre die chinesische Bevölkerung heute um drei- bis vierhundert Millionen Menschen grösser mit allen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen.

Mit der wirtschaftlichen Entwicklung ging auch eine vehemente Urbanisierung einher. Fast die Hälfte der Bevölkerung, d.h. nach dem neuesten Census genau 49,7%, wohnt heute in Grossstädten. Vor zehn Jahren waren es erst 36,2%, 1990 26,4% und am Anfang der Reform 1980 17,4%.

Die Überalterung der Gesellschaft wird ähnlich wie in entwickelten Volkswirtschaften insbesondere in Japan und Europa nach den neuesten Census-Zahlen langsam aber sicher auch in China ein Problem. Über 13 Prozent der Bevölkerung sind bereits über 60 Jahre alt, fast drei Prozent mehr als vor zehn Jahren. Bis in zwanzig Jahren wird der Anteil der Alten nach Vorhersagen chinesischer Bevölkerungswissenschaftler auf satte dreissig Prozent ansteigen. Mit der Überalterung nimmt auch der Anteil der ganz Jungen ab. Der Anteil der bis 14 Jahre alten jungen Chinesinnen und Chinesen ist in den letzten zehn Jahren um über sechs Prozent auf 16,6 Prozent gesunken. Diese Zahl ist deshalb relevant, weil sie in den nächsten zwanzig Jahren einen grossen Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben wird. Erste Anzeichen sind bereits sichtbar. Selbst chinesische Privatunternehmer lassen mittlerweile in Billiglohnländern wie Kambodscha, Burma oder Bangladesh produzieren.

Auch die Fruchtbarkeitsrate d.h. die Zahl Kinder, die eine Frau im Durchschnitt während ihres Lebens zur Welt bringt ist in China dramatisch gefallen. Betrug die Rate zu Beginn der Reform noch 5,8 ist sie nach dem neuesten Zensus auf durchschnittlich 1,8 Kinder pro Frau gefallen. In industrialisierten Ländern gilt eine Fruchtbarkeitsrate 2,1 Kinder pro Frau als Minimum zur Erhaltung der aktuellen Bevölkerungszahl. Nach Vorhersagen des Nationalen Büros für Statistik sowie von chinesischen und internationalen Bevölkerungswissenschaftlern wird Chinas Bevölkerung 2040 bei rund 1,5 Milliarden Menschen den Höhepunkt erreicht haben. Indien, heute nach der neuesten indischen Volkszählung mit einer Bevölkerung von 1,21 Milliarden Menschen, wird zu diesem Zeitpunkt China bereits längst überholt haben.

Ein Problem, das China mit Indien teilt, ist das Ungleichgewicht der Geschlechter. In China ist das besonders ausgeprägt. Knaben sind wie seit altersher immer noch das Glück der Familie. Insbesondere in ländlichen Gebieten, sind dort doch Knaben so etwas wie die Altersversicherung. Mit einer Ausweitung des sozialen Netzes wollen Partei und Regierung diese Schwierigkeiten angehen. Derzeit aber ist das Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern dramatisch. Im Vergleich mit dem internationalen Durchschnitt gibt es im Reich der Mitte sehr viel mehr Männer als Frauen. Nach dem Zensus sind 51,3 Prozent der Bevölkerung Männer und 48,7 Prozent Frauen. Die Folgen: weit verbreitete Prostitution, organisierter Mädchenhandel und Abtreibungen.

NSB-Chef Ma Jiantang machte auf ein anderes, akutes Problem aufmerksam, Wanderarbeiter nämlich. Nach der Volkszählung sind das mit über 250 Millionen mehr als erwartet oder achtzig Prozent mehr als vor zehn Jahren. Die wachsende Zahl der Wanderarbeiter, vorab im reichen Küstengürtel, und in den Grossstädten sind nach Ansicht der Laobaixing Durchschnittsbürger genauso gut wie von Sozialwissenschaftlern eine Herausforderung für «soziale Stabilität und sozialen Frieden».

Zum einen erhalten die Wanderarbeiter mit dem Hukou-System, dem Haushaltsregistrierungs-System, in den städtischen Agglomerationen nicht die gleichen sozialen Vorteile, wie die dort registrierten Städter: Schuldbildung für Kinder etwa, eine minimale Krankenversicherung oder Rente. Sie sind also krass benachteiligt. Zum andern werden diese «Nongminzuo» für alles Übel verantwortlich gemacht, also etwa Kriminalität und dergleichen. Das ist ein Muster, das ja auch Europa kennt und überall eng mit rasanter Wirtschaftsentwicklung verknüpft ist. Der Fremde, der etwas will als Sündenbock also.

Am Rande sei es nur vermerkt, auch die Ausländer wurden erstmals in einem chinesischen Zensus erhoben. Gerade einmal rund 600'000 leben im Reich der Mitte. Darunter 120'000 Koreaner, 72'000 Amerikaner, 66'000 Japaner, 40'000 Burmesen, 36'000 Vietnamesen, 15'000 Franzosen, 15'000 Inder, 14'500 Deutsche und 13'000 Australier.

Und Schweizer? Schätzungsweise einige Hundert auf dem Festland und zwei-, dreitausend in Hongkong. Genaueres war von der Botschaft in Peking nicht zu erfahren. Ab Freitagmittag punkt zwölf Uhr nämlich darf man dort auf dem Anrufbeantworter nur noch eine Botschaft hinterlassen. Eine Antwort selbst auf eine einfache Frage erhält man von den total überarbeiteten, aus Steuergeldern gut bezahlten Bürokraten jedoch nie... .

(Peter Achten/news.ch)

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