Ascona: 100 Jahre Monte Verità

Vor 100 Jahren gründete eine kleine Gruppe um den belgischen Industriellensohn Henry Oedenkoven und seine Lebenspartnerin, die deutsche Pianistin und Feministin Ida Hofmann, auf dem «Berg der Wahrheit» eine lebensreformerische Kolonie.

Sie suchten den dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Nudismus und freie Liebe waren ebenso wie die vegetarische Ernährung Merkmale der Kolonie.

Bis 1920 lebten die Gründer auf dem Hügel - dann wanderten sie nach Brasilien aus. Ihr naturnahes Leben in Licht und Luft faszinierte vor allem Nordeuropäer und bildete den Ausgangspunkt für zahlreiche soziale und künstlerische Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Unter den vielen berühmten Gästen waren auch die Schriftsteller Hermann Hesse und Erich Mühsam.

Nach der Übernahme des Monte Verità durch eine Bohèmegruppe 1923 wurde ein reiner Hotelbetrieb aufgezogen. 1926 kaufte der deutsche Bankier und Kunstsammler Eduard von der Heydt das Gelände und liess ein neues Hotel im Bauhaus-Stil errichten.

Nach seinem Tod 1964 ging der Besitz an den Kanton Tessin über. Im Testament ist die Schenkung an die Bedingung geknüpft, dass der Monte Verità zu einem wichtigen Kunstzentrum wird.

Der bekannte Ausstellungsmacher und Wahltessiner Harald Szeemann hat sich stets für die getreue Umsetzung des letzten Willens des Barons eingesetzt. Ohne Erfolg.

Statt des von Szeemann vorgeschlagenen Kunstpavillons gründete der Kanton Tessin 1989 schliesslich zusammen mit der ETH Zürich die Stiftung Monte Verità. Seither wird der Ort vor allem als Tagungszentrum für hochwissenschaftliche Seminare der ETH (Centro Stefano Franscini) genutzt.

1978 hatte Szeemann mit der Ausstellung «Die Brüste der Wahrheit» die Geschichte des Monte Verità einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Bis heute ist ein Teil der Ausstellung in der Casa Anatta auf dem Monte Verità zu sehen. Dieses Museum wird seit 20 Jahren von der 72-jährigen Hetty Rogantini-de Beauclair betreut. Sie ist eine der wenigen Nachfahren der Monte-Verità-Bewegung, die noch in Ascona lebt. Ihr Vater, Alexander Wilhelm de Beauclair (1877-1962), war erster Sekretär der von Henry Oedenkoven gegründeten vegetarischen Kolonie.

(sda)