Brasiliens Herz feiert Geburtstag

Die 10 Mio. Stadt São Paulo feierte am Sonntag ihren 450. Geburtstag: Den ganzen Tag über wechselten sich überschwängliche Ansprachen, Einweihungen und musikalische Höhepunkte ab. São Paulo: die Stadt die niemals schläft, die Antriebskraft der brasilianischen Wirtschaft und das Herz Brasiliens. Die Stadt ist der perfekte Spiegel des heutigen Brasilien.

Der Jesuitenpater Manuel da Nóbrega taufte diesen Ort am 25. Januar 1554 auf den Namen "São Paulo de Piratininga". Was vor 450 Jahre mit einer Indianerschule anfing, hat sich heute auf eine Fläche von 1 493 Quadratkilometer ausgedehnt.

Im 19. Jahrhundert begann von Rio de Janeiro her über das Vale do Paraíba in der Region São Paulo die Kaffeeproduktion. Kaffee wurde zu dieser Zeit zum wichtigsten Exportprodukt Brasiliens und die Nachfrage auf dem Weltmarkt verhalf der Region São Paulo zum ökonomischen Aufschwung.

Das Trinken eines "Cafesinhos" oder eines "Café espresso" ist noch heute ein absolutes Muss. Kaffee geht in São Paulo mehr als unter die Haut.

In den Jahren 1877 bis 1900 immigrierten 900 000 Europäer nach Brasilien, davon 70 Prozent Italiener. Viele von ihnen blieben in São Paulo. Von 1908 bis 1930 kamen 50 000 Syrier, Libanesen aus dem Nahen Osten und 35 000 Juden aus Osteuropa in die Stadt.

Das Italiener-Viertel Bexiga könnte nicht italienischer sein: an der Praça da Libertade liessen sich Chinesen, Japaner und Koreaner nieder und im Viertel Bon Retiro leben Libanesen, Juden und Türken ein friedliches Miteinander.

Die Avenida Paulista ist eines der wichtigsten Finanzzentren Lateinamerikas. Auf ihren drei Kilometern beherbergt die Strasse nicht nur die Hauptquartiere internationaler Grossbanken und multinationale Handelsniederlassungen, sondern auch die wichtigsten Radio- und Fernsehsender Brasiliens.

Wer die heutige wirtschaftliche Situation der Stadt beschreiben will, kommt um Zahlen nicht herum. Im Grossraum São Paulo erbringen rund 11 Prozent der brasilianischen Bevölkerung 55 Prozent der Industrieproduktion und 36 Prozent der Dienstleistungen.

São Paulo zelebriert aber auch Kultur und Unterhaltung. Das legendäre Theatro Municipal oder das Museo e o Parque da Ipiranga sind nur zwei Beispiele architektonischer Baudenkmäler. An Wochenenden kann man zwischen 128 Theaterstücken, 70 Museen, 280 Kinos, 38 Musicals, 12 klassischen Konzerten und Ausstellungen in 11 verschiedenen Kulturzentren auswählen. Dazu kommen 38 riesige Einkaufszentren, 50 gigantische Einkaufsstrassen und 12 500 Restaurants.

Immer wieder ist das Geräusch eines Helikopters zu hören. In der Stadt gibt es heute 200 Helikopter-Landeplätze, eine Vielzahl mehr als in der nordamerikanischen Metropole New York.

Die Landeplätze sind zwingend nötig: Der allgemeine Strassenverkehr ist ein Chaos. Die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt häufig nur 25km/h. Staus bis zu 120 km sind nicht selten; Metros und Busse sind normalerweise hoffnungsvoll überfüllt. Viele Paulistanos versuchen ihr Glück auf Motorrädern; täglich verunfallen durchschnittlich zwei Personen tödlich.

São Paulo bietet auch das bester Essen Brasiliens. Die Lust und die Laune bestimmen die traditionellen Restaurants. Prato feito, abgekürzt PF, ist so ein typisches Gericht. Reis, Bohnengericht, Ei, Schweinsschnitzel mit frittierter Banane. Beim Essen ist Fussball oftmals das Thema. Die letztjährige Kantonsmeisterschaft entschieden zwei Teams aus der Stadt. Corinthians gewannen gegen den FC São Paulo. Die beiden Endspiele im Stadion Morumbi vor 80 000 Zuschauer waren absolute Extraklasse.

1920 zählte die Stadt 579 000 Einwohner und stieg 1950 auf 2 189 000 an. Heute zählt das Zentrum offiziell 10 406 166 Einwohner. Obwohl die Armenviertel (Favelas) immer grösser werden, nimmt der Zustrom nicht ab. In den Jahren 1995-2000 haben alleine 500 000 Brasilianer aus dem Nordosten ihr Glück in São Paulo versucht.

Es gibt keinen Ort, welcher besser das heutige Brasilien widerspiegelt als São Paulo. Auf der einen Seite die gigantische, reiche, kreative, futuristische, nimmermüde Stadt, auf der anderen Seite die wachsende Armut und Arbeitslosigkeit, der nicht zu kontrollierende Verkehr und die korrupten Behörden.

Trotzdem und gerade deswegen fasziniert diese Stadt. Das Funkeln in den Augen der Paulistanos, ihr Glaube an die Zukunft ihre menschliche Wärme, ihre Hilfsbereitschaft und Kommunikationsfreude, die Intensität der Stadt und die kulturelle Vielfalt. São Paulo ist mehr als nur die Lokomotive, São Paulo ist das Herz Brasiliens.

(von Lukas Gysel, São Paulo/news.ch)