Brecht in Luzern, Nabelschau in Zürich

publiziert: Mittwoch, 21. Sep 2011 / 09:16 Uhr / aktualisiert: Mittwoch, 21. Sep 2011 / 10:35 Uhr
Unfassbar gut in Stosszeit und unfassbar unsichtbar in Zürich: Annette Windlin.
Unfassbar gut in Stosszeit und unfassbar unsichtbar in Zürich: Annette Windlin.

Zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung arbeiten nicht in ihrer Wohngemeinde. Die Schweiz ist kein Raum, sondern mehr und mehr ein Städtenetz, das sich von Genf nach Fribourg über Bern, Olten, Zürich nach St. Gallen ausdehnt. Seit 1970 sind Pendler nicht mehr männlich und in der Minderheit, sondern «das Volk». Also höchste Zeit, dazu ein Stück zu verfassen.

1 Meldung im Zusammenhang

«Stosszeit», die Pendlerballade von Gisela Widmer als Theaterproduktion von Annette Windlin macht genau das. Sie macht es so brillant, dass frau sich als Zuschauerin plötzlich fühlt als hätte man Brecht in Luzern entdeckt.

Die Elvetino-Stewardess Klara erzählt uns zwischen den Geleisen, im Zug, auf dem Zug und auf dem Bahnsteig (die Bühnenkomposition ist ebenso genial wie der Text) ihr Leben, ihren Alltag, die herrschende Politik. Sie beginnt wie viele in der modernen Gesellschaft: Mit Einsamkeit. Die Pendler sehen durch die Frau, die ihre 200 Kilogramm schwere Railbar vor sich stossen oder hinter sich ziehen muss; sie sehen sie als Funktion, nicht als Mensch. Klara ist anständig, nett, sie bewundert einige ihrer Stammgäste: Die Dame im eleganten Kostüm, den Mann, dessen Ehefrau ihn zuhause betrügt, die Menschen, welche gemeinsam vom Büro zuhause in ein fast identisches Büro, das nicht zuhause liegt, hin- und herfahren.

Für 215 Stunden pro Monat verdient Klara brutto nur 3'500 Franken. Die Zwangspausen an den Bahnhöfen werden nicht bezahlt. Die Railbar-Stewards dürfen an den Bahnhöfen nicht mal rauchen, da dies schlecht für das Elvetino-Image ist. Ständig muss jemand bei der Railbar stehen, sonst werden die Sandwiches, Gummibärchen, Twix und Brezel geklaut. Fehlt etwas, muss die Rail-Stewardess für den Verlust aufkommen. Der Job geht massiv in den Rücken. Kein Wunder. Bei 200 Kilogramm! Es ist eigentlich unglaublich, welch hohen Preis viele Menschen zu zahlen bereit sind, nur um ein Arbeitssystem aufrechtzuerhalten, welches einem Manager ermöglicht, auch beim halbstündigen Puffbesuch noch «16'000 Franken» zu «verdienen» (Escort wird dann unter «Spesen» abgebucht) während dieser Betrag auf dem Bau, an der Kasse, im Kiosk im besten Fall einem Vierteljahr-Lohn entspricht.

All dies geht der Zuschauerin bei Widmers Stosszeit fast unter die Haut. Annette Windlin alias Klara erspielt auf der Bühne die Schweiz in Bildern, die seit Dürrenmatt und Bärfuss eher selten auf Schweizer Bühnen zu sehen sind. Klara ist unsere Mutter Courage. Sie wagt den Krieg, der heutzutage «Reality-Show» heisst. Sie durchlebt die Nichtigkeit und den Glanz einer Gesellschaft, welche es sich leistet, Prominenz höher zu gewichten als Kompetenz. Klara wagt die Revolution, um am Ende klassisch und gut bürgerlich stillgestellt zu werden; Klara kriegt das Leben wie es ist, statt ein Leben wie es auch sein könnte. Annette Windlin ist als Klara schlicht grossartig und Widmers Stück ist ein Stück Brecht in Luzern, das Allen zu empfehlen ist.

So. Nun reiben Sie sich die Augen und fragen sich, weshalb an dieser Stelle statt dem üblichen polit-philosophischen Kommentar die Hymne an ein Theaterstück steht.

Das Stück ist feinste Politik und gelebte Demokratie in einer Art, wie dies ausschliesslich poetische Dramatikerinnen zustande bringen. Tragisch am Ganzen ist, was mit diesem grossartigen Stück in diesem kleinen Land und in dessen Medien passiert. «Stosszeit» wird in Luzern, Küssnacht, Altdorf, Frauenfeld, Baden, Sursee, Mels SG, Schwyz, Stans und Zug aufgeführt. «Stosszeit» zeigt nicht nur eine der besten Schauspielerinnen, welche die Schweiz wohl hat, sondern auch ein Bühnenbild, dessen Kreativität Vergleiche lange suchen muss.

Doch was passiert in der deutschschweizerischen Medienlandschaft? «Stosszeit» gibt es ausserhalb der erwähnten Städte nicht. «Stosszeit» erleidet das Schicksal aller Kultur, Poesie und Events, die nicht in Zürich und die nicht via einen befreundeten Fernseh- oder Tamediaredaktor gesehen, anerkannt, diskutiert werden. Luzern ist schon seit Jahren das Herz vieler poetischer, kultursinniger und ökonomisch klugen Entwicklungen. Hören wir Nicht-Luzerner irgendwie davon? Sehen wir, wie es auch geht in einer Schweizer Stadt, die nicht nur Migration, Blocher oder die Polizei thematisieren kann? Diskutieren wir die Vielfalt der sogenannten Innerschweiz mit ihren herausragenden Talenten statt uns mit hässigen Anti-Deutschlandparolen oder Bahnhofstrassenmentalität auseinanderzusetzen? Nö.

Zürich ist echt eine grossartige Stadt. Ich würde sofort wieder dorthin ziehen, wenn ich einen Wohnort in der Schweiz suchen würde. Doch die Medienkonzentration, die von Zürich in Verbindung mit der SVP und den Grossbanken ausgeht, zerstört seit einigen Jahren die Schweiz, die realpolitisch existiert. Medial finden Nabelschauen statt, die nicht mehr amüsant, sondern nur noch peinlich und wirklichkeitsfremd sind. Die in den Medien zelebrierte totalitäre Zürichfixiertheit erinnert an Charlotte Roche's «Feuchtgebiete»: Da wird ein narzistischer Bestseller einer oversexed and underfucked Generation zelebriert, während anderswo schon längst die besseren Brechts, Bachmanns, Dürrenmatts, Mulischs und Lewinskys das Leben vieler und entscheidender Menschen wort- und handlungsstark zeigen, reflektieren und bereichern. Es ist höchste Zeit und für die Schweiz entscheidend, dass Zürichs Medien, Politik und Kultur statt in einer Nabelschau in der Vielfalt der Eidgenossenschaft aufgehen.

(Regula Stämpfli/news.ch)

Lesen Sie hier mehr zum Thema
Brunnen - Aus Anlass des ... mehr lesen
Die Aufführung weiche der berühmten Vorlage nicht aus.
ab in den Papierkorb
Mich würde interessieren, wieviel die (oversexed and underf*ed?: interessant - ich darf dieses Wort nicht schreiben - bitte lesen Sie oben nach) Kolumnistin für ihre chaotischen Berichte kassiert?

Eines scheint gesichert zu sein, sie verdient ihre (Lachs-)Brötchen viel ringer als die Elvetino-Stewardess Klara!
.
Digitaler Strukturwandel  Nach über 16 Jahren hat sich news.ch entschlossen, den Titel in seiner jetzigen Form einzustellen. Damit endet eine Ära medialer Pionierarbeit. mehr lesen 22
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: ...
«Männer stimmten für Hofer, Frauen für Van der Bellen» titelte die FAZ nach dem Wahlkrimi in Österreich. «Warum wählen junge Männer so gern rechts?» fragte jetzt.de einen Soziologen. «Duh» war meine erste Reaktion, hier ein paar weitere. mehr lesen 3
Gewinnorientierte Unternehmen wie der ORS machen aus der Flüchtlingshilfe ein Geschäft. Das Rote Kreuz und die Caritas, die gemeinnützig sind und seit Jahren über grosse Erfahrung in der Betreuung von Menschen auf der Flucht ... mehr lesen
Flüchtlinge (hier in Mazedonien): Mit Gewinnziel zu verwaltende Konkursmasse oder doch Menschen?
Korpskommandant André Blattmann wird von den Mainstreammedien der «Beleidigung» bezichtigt. Er nannte den Rundschau-Chef Sandro Brotz, «Sandro Kotz.» Wer meint, dies sei nur ein Sturm im Wasserglas, irrt. Blattmann manifestiert einmal mehr, dass er von Demokratie und Meinungsfreiheit nichts hält, auch wenn er sich unterdessen bei Brotz entschuldigt hat. mehr lesen   2
Der Nationalrat - seit 2016 absolut schamlos.
«Bist Du nicht willig, stimmen wir ab.» So lautet die Devise der unschweizerischen bürgerlichen Mehrheit seit den Wahlen im Herbst 2015. «Wie schamlos hätten Sie es denn gerne?» titelte klug (aber leider zu spät) der ... mehr lesen   2
Typisch Schweiz Der Bernina Express Natürlich gibt es schnellere Bahnverbindungen in den Süden, aber wohl ...
Edelsteine und Kristalle haben eine besondere Wirkung auf den Menschen.
Shopping Kristall und Edelstein Boutiquen: Einzigartige Geschenke und faszinierende Steinkraft Sie sind auf der Suche nach einem besonderen Geschenk für einen geliebten Menschen? In einer exklusiven Boutique für ...
Erstaunliche Pfingstrose.
Jürg Zentner gegen den Rest der Welt.
Jürg Zentner
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.
Regula Stämpfli seziert jeden Mittwoch das politische und gesell- schaftliche Geschehen.
Regula Stämpfli
«Hier hätte ich noch eine Resistenz - gern geschehen!» Schematische Darstellung, wie ein Bakerium einen Plasmidring weiter gibt.
Patrik Etschmayers exklusive Kolumne mit bissiger Note.
Patrik Etschmayers
Obama in Hanoi mit der Präsidentin der Nationalversammlung, Nguyen Thi Kim Ngan auf einer Besichtigungstour: Willkommenes Gegengewicht zu China.
Peter Achten zu aktuellen Geschehnissen in China und Ostasien.
Peter Achten
Recep Tayyp Erdogan: Liefert Anstoss, Strafgesetzbücher zu entschlacken.
Skeptischer Blick auf organisierte und nicht organisierte Mythen.
Freidenker
 
Stellenmarkt.ch
Kreditrechner
Wunschkredit in CHF
wetter.ch
Heute Fr Sa
Zürich 3°C 11°C wechselnd bewölktleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt freundlich
Basel 4°C 11°C wechselnd bewölktleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wolkig, aber kaum Regen freundlich
St. Gallen 1°C 8°C freundlichleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich freundlich
Bern 1°C 10°C freundlichleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt wechselnd bewölkt
Luzern 3°C 11°C wechselnd bewölktleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt freundlich
Genf 2°C 13°C freundlichleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wolkig, aber kaum Regen wechselnd bewölkt
Lugano 4°C 15°C recht sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig trüb und nass trüb und nass
mehr Wetter von über 8 Millionen Orten