Simonetta Sommaruga an Gedenkanlass

Bundesrat entschuldigt sich bei Verdingkindern

publiziert: Donnerstag, 11. Apr 2013 / 18:04 Uhr / aktualisiert: Donnerstag, 11. Apr 2013 / 19:49 Uhr
Simonetta Sommaruga sprach im Namen des Bundesrates. (Archivbild)
Simonetta Sommaruga sprach im Namen des Bundesrates. (Archivbild)

Bern - Ehemalige Verdingkinder und all jenen Menschen, die im vergangenen Jahrhundert Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geworden sind: Sie hat Justizministerin Simonetta Sommaruga am Donnerstag an einem Gedenkanlass in Bern um Verzeihung gebeten.

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Heimeinweisung, Kindeswegnahme, Zwangssterilisation, Gewalt, schwere Arbeit: «Für das Leid, das Ihnen angetan wurde, bitte ich Sie im Namen der Landesregierung aufrichtig und von ganzem Herzen um Entschuldigung», sagte Sommaruga. «Es ist an der Zeit, dass wir etwas tun, was man Ihnen allen bisher verweigert hat.»

Behördliche Willkür

Rund 700 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen hatten sich zu dem Gedenkanlass in Bern eingefunden. Etliche Menschen im Saal griffen nach den Worten Sommarugas zum Taschentuch oder wischten sich verstohlen eine Träne weg.

Bis in die 70er-Jahre waren in der Schweiz Waisen und Kinder armer Familien häufig bei Bauern untergebracht worden, wo sie für Kost und Logis hart arbeiten mussten und kaum je ein gutes Wort hörten. Viele dieser ehemaligen Verdingkinder berichten von schweren Misshandlungen, behördlicher Willkür und Behörden, die wegschauten.

Oder administrativ Versorgte: «Ich kam mit 17 nach Hindelbank, ohne Gerichtsurteil», berichtete Ursula Biondi als Betroffene. «Mein einziges Vergehen war, dass ich jung war, leidenschaftlich, ich begehrte auf, und ich erwartete ein Baby, ohne verheiratet zu sein. Der Staat wollte mich nacherziehen.»

Gefährliche blinde Flecken

Nach der Entlassung sei an den Versorgten das Stigma haften geblieben, im Gefängnis gewesen zu sein. «Der Staat hat uns mit seiner Willkür schlimme Wunden zugefügt». Wegen des Leides und weil viele der einstigen Versorgten immer wieder aus der Bahn geworfen würden, sei ein Härtefall-Fonds nötig.

«Ich bin eine der Frauen, die aus eugenischen Gründen zur Abtreibung und Sterilisation gedrängt wurden», berichtete Bernadette Gächter, die ihre Erfahrungen als Buch veröffentlicht hat. 1972 sei das gewesen, sie war damals 18 Jahre alt. «Ich wäre gerne Mutter geworden.»

Sie sei für geistesgestört erklärt worden, sagte Gächter. In den über sie angelegten Akten stünden «schreckliche Unwahrheiten». Von Ämter und Institutionen forderte sie nicht nur Einsicht in ihr Dossier, sondern auch alleinige Verfügung.

Diskussion über Entschädigung

Was den Verdingkindern geschehen sei, könne kein Wort ungeschehen machen, und möge es noch so gut gewählt sein, sagte Sommaruga. Sie sprach von einer Verletzung der menschlichen Würde. «Wir können nicht länger wegschauen. Denn genau das haben wir bereits viel zu lange getan.» Wer wegschaue, stelle sich blind. Und nichts sei gefährlicher für eine Gesellschaft als blinde Flecken.

Die Geschichte der Verdingkinder und anderer Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen soll denn auch historisch und rechtlich aufgearbeitet werden. Zur Frage der finanziellen Entschädigung sagte Sommaruga am Donnerstag nichts. Sie hielt lediglich fest, es stellten sich auch finanzielle Fragen.

Um alles weitere soll sich nun alt Ständerat Hansruedi Stadler kümmern, den Sommaruga im Dezember zum Delegierten für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ernannt hatte. Stadler hat den Auftrag, einen Prozess einzuleiten, damit sämtliche offenen Punkte und Fragen zügig angegangen werden. Er werde bereits in den nächsten Wochen zu einem Runden Tisch einladen, sagte Sommaruga.

Bei Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen hatte sich 2010 bereits Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf entschuldigt. Damals ging es in erster Linie um Personen, die ohne Gerichtsurteil «administrativ versorgt» worden waren.

Dossiers zugänglich machen

Um Entschuldigung bat am Donnerstag auch Michel Thentz (JU) namens der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren (SODK) sowie der Städte und Gemeinden. Die Sozialdirektoren setzten sich dafür ein, dass die Akten zum Thema nicht vernichtet würden. Die Kantone müssten den Betroffenen den Zugang zu ihren Dossiers ermöglichen.

Bauernverbands-Präsident Markus Ritter bat um Entschuldigung «für alles Unrecht, das Ihnen auf Bauernhöfen angetan worden ist.» Und auch Bischof Markus Büchel, Präsident der Schweizerischen Bischofskonferenz, bat im Namen der drei Landeskirchen die Menschen im Saal um Vergebung.

(bert/sda)

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Verdingbub Max Hubacher.
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Der Bundesrat will sich bei den ehemaligen Verdingkinder entschuldigen.
Die reiche CH.................
.......... schickt das Geld lieber ins Ausland, als wie es den eigenen Leuten zu geben.

Viele Menschen in diesem Land wissen nicht mal, was ein Verdingkind ist.

Es ging in allen Landesteilen übel zu.

Meine Schwiegermutter ist ein Verdingkind. Sie schämt sich dafür. Sie kann ja nicht mal etwas dafür, dass dem so war und schämt sich dafür.............

Für all die Menschen die nicht wissen was ein Verdingkind ist/war. Verdingkind ist man immer, man vergisst es nie. Ausgenommen die ganzen schlimmen Dinge die einem widerfahren sind.

Also für all die Menschen ein Filmtipp: Der Verdingbub.

Keine leichte Kost.

(Ich bin kein Genossenschafter von der MIGROS)

http://www.exlibris.ch/de/filme/film-dvd/katja-riemann/der-verdingbub/...
Schäbige Schande
Die Verdingkinder haben keine Lobby. Das das ganze bis in die 70er dauerte, dass es so lange dauerte bis eine Entschuldigung folgte und dass keine Schuldsumme bezahlt wird ist fast unglaublich. Das Kapitel des zweiten Weltkrieges wurde schneller aufgeräumt, entschuldigt und abgegolten. Da gab es internationalen Druck und eine Industrielobby. Hier wird nichts gemacht. Schande nach Bern!

Warum mich das so aufregt? Weil es meiner Mutter, meiner Tante und drei meiner Onkel so ergangen ist. Vor allem im Tessin wurde mit grösster Unmenschlichkeit vorgegangen, denn bis in die 60er galten wir für viele Deutschschweizer noch als "Zigeuner" und "Tschinggen". Zigeuner kamen in Kinderheime (zumindest was man damals so nannte) in der Deutschschweiz.

Selbst 1975 als ich 10 war, wurden wir in Zürich in Läden nicht der Reihe nach bedient und durften uns dann anhören "Tschinggen kommt zuletzt dran". Ich war kein "Tschingg". Die waren meine besten Freunde. Nur meine Mutter war aus dem Tessin und hatte einen Akzent. Aber ich war stolz "Halb-Tschingg" zu sein und darauf dass ich im Gegensatz zu diesen Idioten alle Landessprachen fliessend spreche. Richtig zu Hause fühlte ich mich nur in den Ferien im Tessin, denn in der Deutschschweiz wurde man im eigenen Land diskriminiert.

Meine Verwandten wurden von den Eltern getrennt, von katholischen Pfarrer und Nonnen tagtäglich verprügelt, misshandelt und mussten Sklavenarbeit in der reichen Schweiz leisten. Einer meiner Onkel ist als Verdingbueb gestorben. Dazu kann man dann noch die ganze pädophilen Pfaffen zählen. Deshalb spucke ich noch heute auf die verlogene katholische Kirche und den "heiligen" Stuhl, mit einem Zölibat das wider der menschlichen Natur ist.

Noch heute kann ich an gewissen Verhaltensstrukturen erkennen, wie stark diese Leute für's Leben gezeichnet wurden. Eine Entschuldigung reicht nicht. Viele dieser Leute sind jetzt sehr alt und leben von Minimalrenten. Bei sehr vielen ist der Schweizer Staat schuld, dass sie nie eine richtige Ausbildung und eine Chance im Leben erhalten haben. Die Schweiz soll, diesen Menschen eine Zusatzrente zahlen. Auch wenn es nicht viel ist. 100 oder 200 auf die AHV. Das wäre Gerechtigkeit, liebe Bundesräte.
Offenbar...
hat man aus den Fehlern in der Vergangenheit immer noch nichts daraus gelernt, wenn heute noch arbeitende unbescholtene Bürger durch die Behörden bewusst aufs übelste bedroht, verleumdet und gewalttätig angegriffen und verletzt werden.
.
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