Der lange Weg zur «Herrschaft des Rechts»
Das ZK-Plenum der KP Chinas hat getagt. Die Beschlüsse sind gefällt. Das Communiqué ist veröffentlicht. Geht die Partei nun zur Tagesordnung über? Mitnichten. Die Arbeit fängt erst an.
Schon Deng Xiaoping und danach alle Parteichefs der letzten 25 Jahre haben sich abgearbeitet an der zentralen Frage, wie das Zentrum sich gegen die Peripherie durchsetzen kann. Zwar wird China autoritär durch die KP regiert, doch Gesetze, Entschliessungen und Dekrete werden oft in der Provinz, im Kreis, in der Präfektur und im Dorf nicht oder nur schleppend und halbbatzig durchgesetzt. Auch jetzt beim vierten Plenum wurde deshalb der Führungsanspruch der Partei, im konkreten Fall im Rechtswesen, wieder mit Nachdruck unterstrichen. Parteioffiziell liest sich das so: «Der sozialistische Rechtsstaat muss die Führung der Partei stärken und die Führung der Partei muss sich auf die sozialistische Rechtsstaatlichkeit verlassen können».
Die Schlusserklärung der Plenarsitzung, die sich erstmals ausschliesslich dem Thema Rechtsstaat widmete, skizziert die generelle Linie. Die Pflicht zur Rechenschaft von Entscheidungsträgern, eine grössere Rolle der Verfassung im Justizsystem, eine Reduktion der administrativen Eingriffe ins Rechtssystem oder erstmals der Vorschlag von überregionalen Gerichten und Staatsanwaltschaften sind in den Beschlüssen enthalten. Das alles mündet auf Partei-Chinesisch in eine «Sozialistische Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung». Im Schluss-Communiqué wird das schon fast poetisch so umschrieben: Zu schaffen sei «eine soziale Atmosphäre, in der die Einhaltung der Gesetze heldenhaft und deren Missachtung schändlich ist».
Die Partei versucht damit, breitem Unwillen im Volk über offensichtliche Missstände zu begegnen. Enteignete Bauern, unbezahlte Fabrikarbeiter, zu Unrecht vor Gericht Gezerrte oder Verurteilte, Umweltverschmutzung, kaum vorhandene soziale Rettungsnetze (Krankenkassen oder Renten) und vieles mehr - sogar die staatlich kontrollierten Medien sind voller Geschichten, in denen diese Übel dargestellt und kritisch hinterfragt werden. Die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) kommentiert: «Fairness ist die Lebensader des Rechtsstaates».
Wie soll das alles aber in Praxis umgesetzt werden? Einige Hinweise sind bereits in der Schlusserklärung zu erkennen. Die Richter und Staatsanwälte sollen zum Beispiel besser geschult und auch besser bezahlt werden. Damit könnten Eingriffen auf lokaler Ebene, vor allem von Parteikadern auf unterer und unterster Ebene - den «kleinen Kaisern» - ein Riegel geschoben werden. Das jedoch ist eine Sysiphus-Arbeit. In China gibt es 3'500 Gerichtshöfe, rund 25'000 Richter und nochmals so viele Staatsanwälte. Weit über 500 Fälle hat jeder pro Jahr zu bearbeiten. Und das bei Salären - bei gleicher Qualifikation - weit unter dem Niveau der Staats- und - vor allem - der Privatwirtschaft. Richter und Staatsanwälte werden meist von den Lokalregierungen bezahlt. Die Klage über Einmischung und fehlenden Respekt vor dem Gesetz sind deshalb nicht selten.
Doch vieles hat sich seit 1997 schon verbessert, als am 15. Parteitag «die Herrschaft des Rechtes» erstmals als Strategie-Ziel verabschiedet und zwei Jahre später in die Verfassung aufgenommen worden ist. Ausgediente Militärs und Polizisten ohne jede juristische Ausbildung arbeiten nicht mehr wie früher im Justizsystem. Bereits im vergangenen Jahr wurde «Erziehung durch Arbeit» abgeschafft, das heisst Wegsperren ohne Gerichtsurteil. Und ein Todesurteil eines Lokal- oder Provinzgerichtes muss nun zwingend vom Obersten Gericht geprüft werden.
Die Chinesinnen und Chinesen haben dem Ausgang des Plenums mit einiger Spannung entgegengesehen. Es geht um viel. China steht nach 35 erfolgreichen Reformjahren an einer Wende, d.h. von der Export-, Investitions- und Schuldengetriebenen Wirtschaft zu einem Modell mit mehr Innovation, Produktivität, Binnennachfrage und Konsum. Die Lösungen sind umso schwieriger, als - parteioffiziell - die Wirtschafts-Reformen «eine kritische Phase in einem auch international komplizierten und schwierigen Umfeld» erreicht haben. Noch nie seien die Risiken und Herausforderungen für die Parteiführung so gross gewesen.
Wie die laut Schlusserklärung beratenden199 ZK-Mitglieder und 164 Kandidaten (ohne Stimmrecht) sowie das vorsitzende 25-köpfige Politbüro unter Parteichef Xi Jinping ihrer Arbeit nachgingen, konnte gleich nach Ende des Plenums ausführlich am Staatsfernsehen CCTV bestaunt werden. Die wichtigste Person unter den insgesamt 388 Männern und wenige Frauen natürlich immer wieder prominent im Bild: Parteichef Xi Jinping. Dann ausgewogen immer wieder die restlichen sechs Männer des Ständigen Ausschusses des Politbüros, des Machtzentrums schlechthin. Danach immer wieder die übrigen Politbüromitglieder mit einem Kameraschwenk von links nach rechts und von rechts nach links. Dann immer wieder das Plenum von links nach rechts, von rechts nach links, von oben, der Seite und mit einem generellen Schwenk der Kamera von der Saaldecke. Dazu Erläuterungen aus dem Off sowie O-Töne der wichtigsten Teilnehmer angefangen und immer wieder mit Parteichef Xi Jinping. Eine TV-Informationsleistung erster Güte. Doch Chinesinnen und Chinesen sind sich das gewohnt. Der Inhalt der vielen Worte und Kameraschwenks freilich sind für das Land von grosser Bedeutung.
Natürlich ist «The Rule of Law» westlicher Prägung mit dem von China angestrebten «sozialistischen Rechtsstaat» nicht zu vergleichen. Gewaltenteilung zum Beispiel gibt es im Chinesischen System nicht. Die Partei hat das letzte Wort. Dennoch: China bewegt sich in der richtigen Richtung. «Renmin Ribao» (Volkszeitung), das Sprachrohr der Partei, schreibt: «Eine faire, transparente und unabhängige Justiz sind feste Bestandteile eines modernen Rechtsstaates. Das weiss auch Chinas Kommunistische Partei». Der Partei nämlich ist Volkes Stimme nicht verborgen geblieben. Ohne minimale Rechtssicherheit keine soziale Harmonie und wenig Aussicht auf erfolgreiche Wirtschaftsreformen. Aus chinesischer Perspektive lassen auch andere Rechtssysteme zu wünschen übrig. So lässt sich beispielshalber einiges an Kritik am US-amerikanischen Justizsystem anbringen. Jedes Land, so die chinesische Überzeugung, müsse aufgrund der eigenen Geschichte und der eigenen Gegebenheiten handeln.
Auf der Hongkonger Website Oriental Daily News kritisierte der Menschenrechtsanwalt Tin Biao die chinesischen Bemühungen in unverkennbarer britischer Rechtstradition: «Das Geschwätz vom Rechtsstaat ist wie ein Hahn, der vom Eier legen träumt». Die Fortschritte freilich im chinesischen Rechts- und Justizsystem der letzten zwanzig Jahre sind keineswegs Geschwätz. Es sind Fakten, die oft aus westlicher, eurozentristischer Betriebsblindheit nicht wahrgenommen werden. Natürlich bleibt noch viel zu tun. Das weiss, wie das Vierte Plenum eben gezeigt hat, auch die KP.
Anders formuliert: was in China durchaus mit einem gewissem Erfolg praktiziert wird, ist nicht Herrschaft des Rechts sondern Herrschaft durch das Recht.
(Peter Achten/news.ch)
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