Die Falle

publiziert: Montag, 19. Aug 2013 / 09:21 Uhr / aktualisiert: Dienstag, 20. Aug 2013 / 09:13 Uhr
Binnenkonsum soll in China angekurbelt werden: Shopping Center in Beijing.
Binnenkonsum soll in China angekurbelt werden: Shopping Center in Beijing.

Blinder wirtschaftlicher Optimismus in den Schwellenländern prägte das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Unterdessen hat sich in der Folge der euro-amerikanisch-japanischen Finanz- und Wirtschaftskrise die Stimmung eingetrübt.

8 Meldungen im Zusammenhang
Bodenloser Pessimismus als Reaktion auf den blinden Optimismus ist dennoch nicht angezeigt. Sicher, das rasante Wachstum der grossen Schwellenländer - von Goldman Sachs zu Beginn der Jahrhunderts als BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) apostrophiert - hat sich nach der Finanz- und Schulden-Krise in den Industrieländern wegen sinkender globaler Nachfrage nach Gütern und Rohstoffen zum Teil massiv verlangsamt. Das reale Wachstum des Brutto-Inlandproduktes (BIP) von Brasilien etwa sackte von 7,5 Prozent (2010) auf 0,9 Prozent (2012) ab, jenes von Indien im gleichen Zeitraum von 10,5 Prozent auf 3,2 Prozent und jenes von China von knapp 11 Prozent auf 7,8 Prozent. Doch abgesehen von der Krise in den Industrieländern ist das BRICS-Wachstum im ersten Jahrzent des 21. Jahrhunderts eine historische Ausnahme.

Viele Ökonomen und Experten, die vor kurzem noch die Schwellenländer über allen Klee gelobt haben, verfallen nun ins Gegenteil und sehen bereits die grosse Gefahr in der «Falle des Mittleren Einkommens». Gewiss, das ist eine von vielen Möglichkeiten, dennoch aber - sofern Wille zu Reformen vorhanden - nicht die wahrscheinlichste. Die Falle schnappt ökonomisch gesprochen dann zu, wenn die Vorteile wie billige Arbeitskräfte, billiges Land und billiges Kapital nicht mehr greifen, weil nach längerer Zeit steilen Wachstums nun nur noch Innovation und Produktivitätsfortschritte die Volkswirtschaft weiter bringen können. Mit andern Worten, ein Schwellenland in der «Falle des Mittleren Einkommens» kann wegen der wachsenden Lohnkosten in der Produktion nicht mehr mit Billiglohnländern konkurrieren, ist aber wegen fehlender Innovation und Mangel an neuester Produktionstechnologie noch nicht fähig, mit Industrieländern in den Wettbewerb zu treten. Das Wachstum flacht ab, der Wohlstand über das erreichte mittlere Einkommen kann nur noch marginal gemehrt werden.

Die Falle des Mittleren Einkommens wird in der Nationalökonomie auch quantifiziert. Nach Erkenntnissen zum Beispiel des amerikanischen Ökonomen Barry Eichengreen von der Berkeley Universität tritt eine Wachstums-Abschwächung bei einem BIP pro Kopf zwischen 10'000 und 16'000 Dollar ein. Andere Ökonomen kommen zu abweichenden, meist jedoch ähnlichen Schlüssen. Charles Gore, einst Chef-Ökonom der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und Honorar-Professor an der Universität Glasgow, vertritt etwa die Meinung, dass Schwellenländer die «Falle des Mittleren Einkommens» dann erreichen, wenn sie 30 Prozent des BIPs von reichen Industrieländern erreichen. Beispiel China: nach Zahlen der Weltbank betrug das BIP des Reichs der Mitte kaufkraftbereinigt (PPP) vor zehn Jahren 8 Prozent des amerikanischen BIP. Heute sind es bereits 18%, und werden nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds in spätestens 15 Jahren die 30-Prozent-Marke, also die «Falle», erreichen.

Zur Überwindung der Falle des Mittleren Einkommens sind, wie die jüngere Geschichte zeigt, ein ganzes Bündel von Struktur- und Finanz-Reformen nötig. Nationen wie Japan, Südkorea, Singapur, Taiwan aber auch Hongkong, Thailand, Vietnam oder Indonesien haben ihre wirtschaftliche Aufholjagd zunächst mit importierter Technologie - nebst billiger Arbeit, Investitionen aus dem Ausland, wohlfeilem Kapital und Land - begonnen. Seit der Industriellen Revolution vor zweihundert Jahren nämlich waren und sind Europa und die USA die globalen Trendsetter in Technologie und Industrie. Die Nachzügler profitierten von den Innovationen der fortgeschrittenen Industriestaaten. Von einem tiefen Niveau aus wuchsen sie so beträchtlich schneller als die Industriestaaten, und das - wie die Beispiele Japans und Chinas zeigen - über zwei bis drei Jahrzehnte lang.

Das Pro-Kopf-BIP Chinas beträgt heute rund 20 Prozent jenes der USA. Dieser Unterschied zu den USA entspricht historisch gesehen jenem Japans 1951, Singapurs 1966, Hongkongs 1971, Taiwans 1975 oder Südkoreas 1977. Mit andern Worten wuchs Japan gut zwanzig Jahre lang jährlich um knapp 9 Prozent, Singapur um 8,5 Prozent,Taiwan und Hongkong um knapp über 8 Prozent und Südkorea immerhin noch um 7,6 Prozent. Japan oder die sogenannten Tiger- oder Drachenstaaten Südkorea, Singapur, Taiwan und Hongkong haben die Falle mit mannigfaltigen Struktur- und Marktreformen erreicht und überwunden. Zumal die Privatwirtschaft, die Erziehung, Forschung und Entwicklung sowie der Banken-Finanzbereich waren dabei massgebend. Ob die Schwellenländer BRICS sowie beispielsweise Indonesien, Vietnam, Thailand, Malaysia oder Nigeria, Südafrika und Mexiko der «Falle des Mittleren Einkommens» entrinnen können, werden die kommenden Jahre zeigen.

China mit der neuen Führung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premierminister und Ökonom Li Kejiang versucht, das chinesische Wirtschaftswunder der letzten 34 Jahre in die Zukunft hinüberzuretten. Tiefgreifende Strukturreformen werden vorbereitet. Bereits Wen Jiabao, von 2003 bis 2013 Chinas Premier, hatte gewarnt, dass Chinas Wirtschaftswachstum «unausgeglichen, instabil unkoordiniert und nicht nachhaltig» sei. Das neue Wirtschaftsmodell soll sich also stützen auf Innovation, neuen Produktionstechnologien, Erziehungs- und Universitätsreform sowie Finanz- und Bankenreform, Förderung der Privatwirtschaft, Umstrukturierung der Staatsbetriebe und mehr Markt. Die Richtung: weg von einseitiger Abhängigkeit von Export und Investitionen, hin zu mehr Binnennachfrage und Konsum.

Entschieden wird wie jedes Jahr am Parteiplenum im Herbst. Das diesjährige Partei-Powwow ist wohl das wichtigste der letzten zehn Jahre. Privilegien und Interessen der Parteielite, der Provinzfürsten oder der hohe Staatsbetriebskader stehen auf dem Spiel. Die Beschlüsse werden zeigen, ob «die Falle» umgangen werden kann. Falls die nötigen Reformen zügig durchgeführt werden, wird das Wachstum zwar abflachen. Nach Ansicht jedoch von Michel Pettis, Finanz-Professor an der Pekinger Elite-Universität Beida, könne das der KP so teure Prinzip der «sozialen Stabilität» auch bei einem Wachstum von «nur» 3 bis 4 Prozent aufrechterhalten werden. Mehr brauche es nicht für ein «nachhaltiges Wachstum».

Viele im Westen werfen auch die Frage auf, ob denn zum Cocktail der Reformen zur Vermeidung der «Falle» nicht auch politische Reformen gehörten. Wegen des chinesischen Erfolgsmodells wird denn auch bereits herumgeboten, dass das westlich liberale, privat-kapitalistische Modell langsam vom östlichen autoritär-staatskapitalistischen Modell abgelöst werde. Die Frage ist unentschieden. Südkorea oder Taiwan beispielsweise verdanken ihren Aufschwung einem Regime, das autoritär, ja gar diktatorisch war und der Wirtschaft Staatskapitalismus pur mit Protektionismus und Export-Subventionen verschrieb. Bei näherem Zusehen hin freilich zeigt sich, dass das von liberalen Ökonomen verhasste Prinzip damals durchaus Sinn gemacht hat. Denn das staatliche Geld floss keineswegs flächendeckend nach dem Giesskannen-Prinzip in die grossen Staats- und Privatkonglomerate. Nur Grossunternehmen, die markante Produktivitätssteigerungen erzielt haben und auf dem internationalen Markt wegen ihrer Innovation erfolgreich waren, wurden unterstützt.

Nachdem in Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong die Falle des Mittleren Einkommens erreicht hatten und dieses dank Strukturreformen und Innovation übersprungen wurde, zerfiel das autoritäre Regime und machte einer wenn auch oft ruppigen oder zumindest beschränkten Demokratie Platz. Im Falle von Singapur setzte sich eine Mischform durch, eine autoritäre Demokratie sozusagen. Im Falle des Schwellenlands China ist die Rechnung noch offen. Seit gut zwanzig Jahren haben sich mit der schnell wachsenden Mittelklasse zumindest ansatzweise transparentere Regierungsstrukturen und eine offenere Medienlandschaft durchgesetzt.

Selbstverständlich will die allmächtige Kommunistische Partei ihr Machtmonopol behalten. Ob und wie das gelingen wird, bleibt abzuwarten. Nach Ansicht der Ökonomen Daron Acemoglu und James A. Robinson ist jener im Westen und Japan erreichte Wohlstand ohne «inklusive» politische Strukturen nicht möglich. Die Autoren des Buches** belegen diesen Befund mit zahlreichen Beispielen aus der neueren und älteren Geschichte. «Alles einschliessende Institutionen» seien unverzichtbar, um die «Falle des Mittleren Einkommens» zu überwinden und nachhaltiges Wachstum und Wohlstand für alle zu erreichen.


** Daron Acemoglu, James A. Robinson: Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity, and Poverty. Profile Books, New York 2012.

(Peter Achten/news.ch)

Kommentieren Sie jetzt diese news.ch - Meldung.
Lesen Sie hier mehr zum Thema
Achtens Asien Das 21. Jahrhundert gehöre China. ... mehr lesen
Die inneren und westlichen Gebiete sind eher Entwicklungsgebiete: Strassenszene in Huang Lu, Hainan.
Xi Jinping (bei Ankunft zum APEC-Meeting in Bali mit Ehefrau Peng Liyuan): Revolution angekündet.
Achtens Asien Vermutlich wird das Ereignis vom kommenden Wochenende (9.-12. November) international keine allzu grossen Schlagzeilen ... mehr lesen
Peking - Chinas Exporte sind ... mehr lesen
Chinas Staatsführung bleibt trotzdem optimistisch.
London - Japanische Banken verleihen mehr Geld ins Ausland als die Institute aller anderen Länder. Damit kehren die Geldhäuser auf eine Position zurück, die sie zuletzt in den 1990er Jahren vor einer schweren Bankenkrise in ihrem Heimatland innehatten. mehr lesen 
Vor allem in Asien sei das Wirtschaftsklima getrübt.
Berlin - Die Stimmung in der ... mehr lesen
Weitere Artikel im Zusammenhang
Achtens Asien Sind in China die Grenzen des Wachstums erreicht? Nach 34 Jahren der «sozialistischen Wirtschaftsreform chinesische ... mehr lesen
Die Sommerfrische, wo die Zukunft Chinas festgelegt wird: Strand von Beidaihe.
In diesem Jahr sollen umgerechnet 104,5 Mrd. Franken in die Eisenbahnindustrie investiert werden.
Peking - China will seine ... mehr lesen
.
Digitaler Strukturwandel  Nach über 16 Jahren hat sich news.ch entschlossen, den Titel in seiner jetzigen Form einzustellen. Damit endet eine Ära medialer Pionierarbeit. mehr lesen 22
Obama in Hanoi mit der Präsidentin der Nationalversammlung, Nguyen Thi Kim Ngan auf einer Besichtigungstour: Willkommenes Gegengewicht zu China.
Obama in Hanoi mit der Präsidentin der ...
Mit seinem Besuch in Vietnam hat US-Präsident Obama seine seit acht Jahren verfolgte Asienpolitik abgerundet. Die einstigen Todfeinde USA und Vietnam sind, wenn auch noch nicht Freunde, so doch nun Partner. China verfolgt die Entwicklung mit Misstrauen. mehr lesen 
Zum 50. Mal jährt sich im Mai der Beginn der chinesischen «Grossen Proletarischen Kulturrevolution». Das Chaos dauerte zehn Jahre. Mit tragischen Folgen. mehr lesen  
Mao-Büsten aus der Zeit der Kulturrevolution: «Sonne des Ostens» und Halbgott.
Kein Psychopath, sondern ein der Realität verpflichteter Diktator: Kim Jong-un.
Kim Jong-un ist ein Meister der Propaganda und (Selbst)Inszenierung. Nach vier Jahren an der Macht liess er sich nun am VII. Kongress der Koreanischen Arbeiterpartei zum Vorsitzenden krönen. mehr lesen  
Pekinger Pfannkuchen oder Crêpes Pékinoises sind nur schwache Umschreibungen für das ultimative Pekinger Frühstück Jianbing. Wörtlich übersetzt heisst Jianbing ganz banal gebratener Pfannkuchen. Aber oho, Jianbing schmeckt ... mehr lesen
Das Ehepaar Wang in Aktion.
Typisch Schweiz Der Bernina Express Natürlich gibt es schnellere Bahnverbindungen in den Süden, aber wohl ...
Highlight der Kollektion: Eine Gibson Les Paul von 1959, die 300.000 bis 500.000 Pfund einbringen soll.
Shopping Mark Knopfler verkauft seine Gitarrensammlung Die Gitarrensammlung vom Dire Straits-Gitarristen Mark Knopfler wird am 31.01.2024 bei Christie's versteigert.
Erstaunliche Pfingstrose.
Jürg Zentner gegen den Rest der Welt.
Jürg Zentner
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.
Regula Stämpfli seziert jeden Mittwoch das politische und gesell- schaftliche Geschehen.
Regula Stämpfli
«Hier hätte ich noch eine Resistenz - gern geschehen!» Schematische Darstellung, wie ein Bakerium einen Plasmidring weiter gibt.
Patrik Etschmayers exklusive Kolumne mit bissiger Note.
Patrik Etschmayers
Obama in Hanoi mit der Präsidentin der Nationalversammlung, Nguyen Thi Kim Ngan auf einer Besichtigungstour: Willkommenes Gegengewicht zu China.
Peter Achten zu aktuellen Geschehnissen in China und Ostasien.
Peter Achten
Recep Tayyp Erdogan: Liefert Anstoss, Strafgesetzbücher zu entschlacken.
Skeptischer Blick auf organisierte und nicht organisierte Mythen.
Freidenker
 
Stellenmarkt.ch
Kreditrechner
Wunschkredit in CHF
wetter.ch
Heute Sa So
Zürich 1°C 7°C trüb und nassleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt, Regen trüb und nass
Basel 3°C 9°C wechselnd bewölkt, Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt, Regen wechselnd bewölkt, Regen
St. Gallen 1°C 5°C trüb und nassleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig starker Schneeregen immer wieder Schnee
Bern -1°C 7°C wechselnd bewölkt, Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt, Regen wechselnd bewölkt, Regen
Luzern 2°C 7°C trüb und nassleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt, Regen trüb und nass
Genf 0°C 12°C wolkig, aber kaum Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wolkig, aber kaum Regen wolkig, aber kaum Regen
Lugano 6°C 16°C freundlichleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig recht sonnig wolkig, aber kaum Regen
mehr Wetter von über 8 Millionen Orten