Die Falle
Blinder wirtschaftlicher Optimismus in den Schwellenländern prägte das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Unterdessen hat sich in der Folge der euro-amerikanisch-japanischen Finanz- und Wirtschaftskrise die Stimmung eingetrübt.
Viele Ökonomen und Experten, die vor kurzem noch die Schwellenländer über allen Klee gelobt haben, verfallen nun ins Gegenteil und sehen bereits die grosse Gefahr in der «Falle des Mittleren Einkommens». Gewiss, das ist eine von vielen Möglichkeiten, dennoch aber - sofern Wille zu Reformen vorhanden - nicht die wahrscheinlichste. Die Falle schnappt ökonomisch gesprochen dann zu, wenn die Vorteile wie billige Arbeitskräfte, billiges Land und billiges Kapital nicht mehr greifen, weil nach längerer Zeit steilen Wachstums nun nur noch Innovation und Produktivitätsfortschritte die Volkswirtschaft weiter bringen können. Mit andern Worten, ein Schwellenland in der «Falle des Mittleren Einkommens» kann wegen der wachsenden Lohnkosten in der Produktion nicht mehr mit Billiglohnländern konkurrieren, ist aber wegen fehlender Innovation und Mangel an neuester Produktionstechnologie noch nicht fähig, mit Industrieländern in den Wettbewerb zu treten. Das Wachstum flacht ab, der Wohlstand über das erreichte mittlere Einkommen kann nur noch marginal gemehrt werden.
Die Falle des Mittleren Einkommens wird in der Nationalökonomie auch quantifiziert. Nach Erkenntnissen zum Beispiel des amerikanischen Ökonomen Barry Eichengreen von der Berkeley Universität tritt eine Wachstums-Abschwächung bei einem BIP pro Kopf zwischen 10'000 und 16'000 Dollar ein. Andere Ökonomen kommen zu abweichenden, meist jedoch ähnlichen Schlüssen. Charles Gore, einst Chef-Ökonom der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und Honorar-Professor an der Universität Glasgow, vertritt etwa die Meinung, dass Schwellenländer die «Falle des Mittleren Einkommens» dann erreichen, wenn sie 30 Prozent des BIPs von reichen Industrieländern erreichen. Beispiel China: nach Zahlen der Weltbank betrug das BIP des Reichs der Mitte kaufkraftbereinigt (PPP) vor zehn Jahren 8 Prozent des amerikanischen BIP. Heute sind es bereits 18%, und werden nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds in spätestens 15 Jahren die 30-Prozent-Marke, also die «Falle», erreichen.
Zur Überwindung der Falle des Mittleren Einkommens sind, wie die jüngere Geschichte zeigt, ein ganzes Bündel von Struktur- und Finanz-Reformen nötig. Nationen wie Japan, Südkorea, Singapur, Taiwan aber auch Hongkong, Thailand, Vietnam oder Indonesien haben ihre wirtschaftliche Aufholjagd zunächst mit importierter Technologie - nebst billiger Arbeit, Investitionen aus dem Ausland, wohlfeilem Kapital und Land - begonnen. Seit der Industriellen Revolution vor zweihundert Jahren nämlich waren und sind Europa und die USA die globalen Trendsetter in Technologie und Industrie. Die Nachzügler profitierten von den Innovationen der fortgeschrittenen Industriestaaten. Von einem tiefen Niveau aus wuchsen sie so beträchtlich schneller als die Industriestaaten, und das - wie die Beispiele Japans und Chinas zeigen - über zwei bis drei Jahrzehnte lang.
Das Pro-Kopf-BIP Chinas beträgt heute rund 20 Prozent jenes der USA. Dieser Unterschied zu den USA entspricht historisch gesehen jenem Japans 1951, Singapurs 1966, Hongkongs 1971, Taiwans 1975 oder Südkoreas 1977. Mit andern Worten wuchs Japan gut zwanzig Jahre lang jährlich um knapp 9 Prozent, Singapur um 8,5 Prozent,Taiwan und Hongkong um knapp über 8 Prozent und Südkorea immerhin noch um 7,6 Prozent. Japan oder die sogenannten Tiger- oder Drachenstaaten Südkorea, Singapur, Taiwan und Hongkong haben die Falle mit mannigfaltigen Struktur- und Marktreformen erreicht und überwunden. Zumal die Privatwirtschaft, die Erziehung, Forschung und Entwicklung sowie der Banken-Finanzbereich waren dabei massgebend. Ob die Schwellenländer BRICS sowie beispielsweise Indonesien, Vietnam, Thailand, Malaysia oder Nigeria, Südafrika und Mexiko der «Falle des Mittleren Einkommens» entrinnen können, werden die kommenden Jahre zeigen.
China mit der neuen Führung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premierminister und Ökonom Li Kejiang versucht, das chinesische Wirtschaftswunder der letzten 34 Jahre in die Zukunft hinüberzuretten. Tiefgreifende Strukturreformen werden vorbereitet. Bereits Wen Jiabao, von 2003 bis 2013 Chinas Premier, hatte gewarnt, dass Chinas Wirtschaftswachstum «unausgeglichen, instabil unkoordiniert und nicht nachhaltig» sei. Das neue Wirtschaftsmodell soll sich also stützen auf Innovation, neuen Produktionstechnologien, Erziehungs- und Universitätsreform sowie Finanz- und Bankenreform, Förderung der Privatwirtschaft, Umstrukturierung der Staatsbetriebe und mehr Markt. Die Richtung: weg von einseitiger Abhängigkeit von Export und Investitionen, hin zu mehr Binnennachfrage und Konsum.
Entschieden wird wie jedes Jahr am Parteiplenum im Herbst. Das diesjährige Partei-Powwow ist wohl das wichtigste der letzten zehn Jahre. Privilegien und Interessen der Parteielite, der Provinzfürsten oder der hohe Staatsbetriebskader stehen auf dem Spiel. Die Beschlüsse werden zeigen, ob «die Falle» umgangen werden kann. Falls die nötigen Reformen zügig durchgeführt werden, wird das Wachstum zwar abflachen. Nach Ansicht jedoch von Michel Pettis, Finanz-Professor an der Pekinger Elite-Universität Beida, könne das der KP so teure Prinzip der «sozialen Stabilität» auch bei einem Wachstum von «nur» 3 bis 4 Prozent aufrechterhalten werden. Mehr brauche es nicht für ein «nachhaltiges Wachstum».
Viele im Westen werfen auch die Frage auf, ob denn zum Cocktail der Reformen zur Vermeidung der «Falle» nicht auch politische Reformen gehörten. Wegen des chinesischen Erfolgsmodells wird denn auch bereits herumgeboten, dass das westlich liberale, privat-kapitalistische Modell langsam vom östlichen autoritär-staatskapitalistischen Modell abgelöst werde. Die Frage ist unentschieden. Südkorea oder Taiwan beispielsweise verdanken ihren Aufschwung einem Regime, das autoritär, ja gar diktatorisch war und der Wirtschaft Staatskapitalismus pur mit Protektionismus und Export-Subventionen verschrieb. Bei näherem Zusehen hin freilich zeigt sich, dass das von liberalen Ökonomen verhasste Prinzip damals durchaus Sinn gemacht hat. Denn das staatliche Geld floss keineswegs flächendeckend nach dem Giesskannen-Prinzip in die grossen Staats- und Privatkonglomerate. Nur Grossunternehmen, die markante Produktivitätssteigerungen erzielt haben und auf dem internationalen Markt wegen ihrer Innovation erfolgreich waren, wurden unterstützt.
Nachdem in Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong die Falle des Mittleren Einkommens erreicht hatten und dieses dank Strukturreformen und Innovation übersprungen wurde, zerfiel das autoritäre Regime und machte einer wenn auch oft ruppigen oder zumindest beschränkten Demokratie Platz. Im Falle von Singapur setzte sich eine Mischform durch, eine autoritäre Demokratie sozusagen. Im Falle des Schwellenlands China ist die Rechnung noch offen. Seit gut zwanzig Jahren haben sich mit der schnell wachsenden Mittelklasse zumindest ansatzweise transparentere Regierungsstrukturen und eine offenere Medienlandschaft durchgesetzt.
Selbstverständlich will die allmächtige Kommunistische Partei ihr Machtmonopol behalten. Ob und wie das gelingen wird, bleibt abzuwarten. Nach Ansicht der Ökonomen Daron Acemoglu und James A. Robinson ist jener im Westen und Japan erreichte Wohlstand ohne «inklusive» politische Strukturen nicht möglich. Die Autoren des Buches** belegen diesen Befund mit zahlreichen Beispielen aus der neueren und älteren Geschichte. «Alles einschliessende Institutionen» seien unverzichtbar, um die «Falle des Mittleren Einkommens» zu überwinden und nachhaltiges Wachstum und Wohlstand für alle zu erreichen.
** Daron Acemoglu, James A. Robinson: Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity, and Poverty. Profile Books, New York 2012.
(Peter Achten/news.ch)
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