Die Pandora-Büchse Hongkong
Das Parlament in Hongkong hat sich der von China vorgeschlagenen Wahlreform für den Regierungschef verweigert. Die demokratische Opposition verhinderte mit ihrem Nein die für die Reform notwendige Zweidrittelsmehrheit. Ein Sieg für die Demokratie?
Der Kommentar bezog sich bei der Erwähnung von «Aufruhr» auf die monatelangen Demonstrationen der hauptsächlich von Studenten getragenen Occupy-Central-Bewegung. Zehntausende legten im Herbst letzten Jahres das Regierungs- und Geschäftszentrum der Finanzmetropole Hongkong lahm. Protestiert wurde dabei gegen einen Beschluss des Ständigen Ausschusses der Nationalen Volkskongresses (Parlament) in Peking. Im chinesischen Vorschlag zur Wahlreform wurde die Wahl des Regierungschefs von Hongkong ab dem Jahr 2017 nach dem Prinzip «ein Mensch, eine Stimme» festgelegt. Allerdings können Kandidaten nicht frei und demokratisch bestimmt werden. Das besorgt nach dem Willen Pekings ein 1200-köpfiges Nominations-Komitee, das vornehmlich aus China-treuen Vertretern verschiedener Berufsstände, Gebietskörperschaften und des Grosskapitals zusammengesetzt werden soll.
Die Stellvertretende Regierungschefin Carrie Lam Cheng Yuet-ngor tönte in der Legco-Debatte wie ein Echo aus Peking: «Bei einem Scheitern der Reform wird die politische Entwicklung zum Stillstand kommen». Der chinesische Reformvorschlag, so Carrie Lam, sei «das beste Angebot unter den aktuellen Umständen». Vor zwei Monaten sagte der unpopuläre Regierungschef Leung Chun Ying: «Wir sehen keinen Spielraum für irgendwelche Kompromisse». In Peking sagte derweil der Sprecher des Aussenministeriums Hong Lei, der Reformplan sei «machbar, vernünftig und pragmatisch». Holden Chow wiederum, der Vizevorsitzende der Peking-treuen Democratic Alliance for the Betterment and Progress of Hongkong, meint mit etwas resigniertem Blick nach Peking: «Ob es uns passt oder nicht, die Entscheidung ist gefallen».
Die Hongkonger Demokraten jedoch halten den Wahlreformvorschlag des Nationalen Volkskongresses, bei dem nur zwei, maximal drei Peking-treue Kandidaten zur Auswahl stehen, für einen Etikettenschwindel, eine «Pseudodemokratie» und eine «Scheinwahl». Bei den Massenprotesten im letzten Herbst waren Banner zu lesen mit der Aufschrift «Wahlen wie in Nordkorea». Die Vorsitzende der Demokratischen Partei Emily Lau sagte vor der Abstimmung, dass bei einer Ablehnung des Plans alles wieder von vorne anfange. Das sei «tragisch», aber der Kampf für mehr Demokratie werde fortgesetzt. Demokrat Alan Leong wiederum meinte Ende Mai nach Gesprächen mit Pro-Peking-Legco-Abgeordneten, dass er zum «eindeutigen Befund» gekommen sei, dass in dieser Reformfrage «die Zentralregierung sich nicht um ein Iota» bewegen werde. Auch Anson Chan, als Chief Secretary höchste Verwaltungsbeamtin unter dem letzten britischen Governeur und dem ersten von Peking ernannten Chief Executive, sprach sich für eine Ablehnung der Wahlrechtsreform aus. Mit ihrer eigenen Denkfabrik «Hong Kong 2020» will die 75 Jahre alte Anson Chan eine Debatte über Wahlrechtsreform und Verfassung führen. Zur jetzigen Lage fragt sie: «Was nützt das Prinzip 'one man, one vote', wenn die zwei oder drei Kandidaten, die zur Wahl stehen, von Peking nominiert werden?». Die Meinung in der Bevölkerungen ist gespalten. Je nach Umfrage sind Befürworter und Gegner der Pekinger Wahlrechtsreform leicht im Vorteil.
Die Abstimmung nach langer Debatte im Legislativrat (Legco) verlief turbulent. Das pro-demokratische Lager vereinigt 27 von insgesamt 70 Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf sich. Die grosse Frage war, ob der Pekinger Vorschlag die laut Hongkonger Grundgesetz notwendige Zweidrittelmehrheit erreichen wird. Rein rechnerisch fehlten dazu lediglich vier Stimmen. Das Pro-Peking-Lager hoffte, einige der Demokraten im letzten Moment noch umstimmen zu können. Wider Erwarten stimmten die Demokraten aber geschlossen gegen den Pekinger Reformvorschlag. Das demokratische Lager kann, wie das jetzige Beispiel erneut zeigt, wenig bis nichts gestalten. Aber es kann alles verhindern.
Damit wird vorerst 2017 keine allgemeine Volkswahl für den Chef der Sonderverwaltungszone Hongkong stattfinden. Alles bleibt so, wie es bis anhin, d.h. seit 2012 war. 1200 Peking-freundliche Delegierte werden den neuen Regierungschef wählen. Das ist selbst für Peking, wie die Vergangenheit zeigt, nicht das Gelbe vom Ei. Der jetzige Regierungschef Leung Chun Ying schaffte vor drei Jahren gerade einmal 689 Stimmen des Wahlkomitees. Leung ist in Hongkong extrem unpopulär und während der «Regenschirm-Revolte» im vergangenen Herbst ist der Ruf nach seinem Rücktritt unüberhörbar gewesen. Das ist auch heute noch so. Aber mit Maximalforderungen erreicht man in Peking nichts. Diese Erfahrung machten Studenten und Arbeiter 1989 auf dem Tiananmenplatz in Peking, und dieselbe Erfahrung machten im letzten Herbst Studenten und Intellektuelle der «Regenschirm-Revolte» in Hongkong.
Als Resultat der Ablehnung wird sich in der 8-Millionen-Metropole Hongkong die Polarisierung der Bevölkerung fortsetzen. Die Hongkonger Regierung, unpopulär wie sie ist, wird noch mehr Schwierigkeiten haben, die dringenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Westliche Beobachter glauben zu wissen, dass mit der Ablehnung der Wahlrechtsreform die chinesische Führung zu den Verlierern gehört. Sie täuschen sich. Peking kann nach dem mit den Britischen Kolonialherren ausgehandelten Grundgesetz (Basic Law) rechtlich bestimmen, was in der Sonderverwaltungszone nach dem anerkannten, für mindestens fünfzig Jahre geltende Prinzip «ein Land, zwei Systeme» Sache ist. Bislang hat sich China bis ins Detail an die Basic Law gehalten. Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit etwa sind 18 Jahre nach der «Rückkehr ins Mutterland» gewährleistet. In Hongkong gibt es heute mehr Demonstrationen als zur Kolonialzeit, zum Beispiel jedes Jahr am 4. Juni, wo Zehntausende der Niederschlagung des Studenten- und Arbeiterprotestes auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens in Peking gedenken. Auch die Presse äussert sich trotz mannigfaltigen Druckversuchen aus China nach wie vor offen und kritisch. Während 150 Jahren übrigens hielten die britischen Kolonialherren nichts von Demokratie in Hongkong.
Cheung Chor-yung, Politikwissenschafter an der City University Hongkong, bringt die Legco-Abstimmung so auf den Punkt: «Die Ablehnung der Reform macht die Pan-Demokraten vielleicht glücklich. Doch es bringt Hongkong keinen Schritt näher zur Demokratie. Es ist unwahrscheinlich, dass Peking in dieser Frage nachgibt». Der Präsident der demokratischen Civic Party, Alan Leong, gibt allerdings zu bedenken: «Die Botschaft an die Chinesische und die Hongkonger Regierung lautet: das Volk in Hongkong akzeptiert keine Demokratie-Parodie». Die Pekinger Parteipostille «Global Times» schreibt unterdessen ungerührt von einer «verpassten politischen Reform-Chance». Metaphernreich handelt der Partei-Kommentator das Thema «Aufruhr» ab: «Wir sind besorgt, dass eine Pandora-Büchse in Hongkong geöffnet wird, und dass mannigfaltige Teufel freigelassen werden, um die Zukunft der Region zu ruinieren. Wer Hongkong liebt, sollte die Büchse gut verschlossen halten, auf dass Hongkong nicht von einem Finanz- und Mode-Zentrum zu einem totalen Chaos degeneriert».
In Summa: Es gibt nach der Legco-Abstimmung keine Gewinner. Pekings kommunistische Führung genauso wie Hongkongs Demokraten gehören zu den Verlierern. Ein Hongkonger Journalist, der seinen Namen nicht veröffentlicht haben will, fragt, ob es denn nicht die demokratischere Art gewesen wäre, dem Prinzip «one man, one vote» zuzustimmen, und dann bei den allgemeinen Wahlen für den Regierungschef mit den zwei oder drei von Peking abgesegneten Kandidaten massiv leere Stimmzettel einzulegen. «Das wäre doch», so der Journalist, «die ultimative Lektion für die autoritären Herrscher in Peking gewesen».
(Peter Achten / Peking/news.ch)
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