Die Reichen im schiefen Licht
Gerüchte sind das eine, Tatsachen das andere. Dass viele chinesische Parteikader von ganz oben bis unten ins Dorf korrupt sind, wird von vielen Chinesinnen und Chinesen ganz selbstverständlich angenommen.
Premieminister Wen Jiabao ist wie Staats- und Parteichef Hu Jintao seit zehn Jahren an der Macht und wird am Parteitag einer jüngeren Generation - Xi Jingping als Parteichef und Li Keqiang als Premier - Platz machen. Wen, ein effizienter Magistrat und herausragender Ökonom trat am Fernsehen stets bescheiden, volksnah und als Tröster der Armen und Entrechteten auf und gab ihnen Mut. Wortgewaltig wetterte er gegen Korruption. Vor wenigen Monaten noch bezeichnete er Korruption als grosse Bedrohung für die Macht der KP. Alle hohen Funktionäre bis auf Provinzebene forderte er auf, ihre Finanzen offenzulegen, «Informationen über ihre Verwandten und Kinder eingeschlossen».
Innerhalb der Partei gilt Wen als liberal, offen und gehört dem innerparteilich eher progressiven Reformflügel an. Schliesslich war er einmal Sekretär des nach den Tiananmen-Unruhen geschassten Parteichefs Zhao Ziyang. In den letzten Jahren und Monaten beklagte er öffentlich die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sowie Stadt und Land, redete der Politik-Reform das Wort.
«Soziale Fairness und Gerechtigkeit», so Wen, geböten es, etwas Entscheidendes dagegen zu tun. «Eine faire und vernünftige Verteilung des Einkommens», kommentierte die offizielle Regierungszeitung «China Daily», «ist essentiell für den Aufbau einer harmonischen Gesellschaft». In der Tat ist denn nach Zahlen der Weltbank die Einkommensverteilung in der sozialistischen Volksrepublik China weit ungleicher als in den kapitalistischen USA.
Und jetzt aus heiterem Himmel quasi das: Auf der Internetseite der renommierten «New York Times» wird das Vermögen der erweiterten Familie von Premier Wen mit satten 2,5 Milliarden US Dollar angegeben. Aufgrund von offiziellen Angaben und Analysen von Unternehmensdaten sei man, so die Times, auf diese Summe gekommen. Während Wens Amtszeit, also seit 1998 als Vizepremier und seit 2002 als Premier, seien unter anderem Sohn, Tochter, Schwager, ein jüngerer Bruder «sehr, sehr reich geworden». Immerhin räumt die «New York Times» ein, dass rund achtzig Prozent des Vermögens von «entfernten Verwandten» und nicht von Wen Jiabaos Frau oder Kindern kontrolliert werde. Direkt und persönlich, so die Times, habe Wen aber nicht in Geschäfte eingegriffen.
Kein Wunder, dass ob solcher Vorwürfe nur kurz vor dem entscheidenden 18. Parteitag das chinesische Aussenministerium gereizt reagierte. Die Veröffentlichung der «New York Times» sei ein Versuch, «China in den Dreck zu ziehen».. Wie weit die Nachricht in China bekannt wurde, ist schwer zu sagen. Internetseiten und Fernsehsender aus dem Ausland wurden blockiert. Interessant ist auch, dass in der Pekinger Gerüchteküche gesagt wird, dass auch intern mit Absicht auf Premier Wen gezielt werde, um seine jüngeren Anhänger in der Partei für das kommende KP-Powwow in der Grossen Halle des Volkes am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens zu schwächen. Weil alles gut kaiserlich-chinesisch «hinter dem Vorhang» abläuft, ist der Wahrheitsgehalt all dieser Gerüchte nicht zu überprüfen.
Die Enthüllung über den «guten Premier Wen» ist nicht die erste dieser Art vor dem Parteitag. Die Familie des künftigen Staats- und Parteichefs Xi Jingping, ein Vertreter der «Prinzchen»-Fraktion - also Kindes- und Kindeskinder verdienter Revolutionäre - soll nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg ein Vermögen von über dreihundert Millionen Dollar angehäuft haben. Auch andere Parteibeamte sind relativ reich bis wohlhabend, weil trotz 33 Jahren Wirtschaftsreform der Staat in der «sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung» noch immer stets ein entscheidendes Machtwort sprechen kann.
Kommt dazu, dass in der jetzigen Entwicklungsstufe, ökonomisch gesprochen, der Abstand zwischen Arm und Reich zunehmen muss. Es gibt Dollar-Millionäre und Milliardäre in grosser Zahl, und diese zeigen auch ungeniert ihren Reichtum. Allein, jetzt geben viele Chinesinnen und Chinesen zornig ihren Unmut auf dem Twitter-ähnlichen Weibo kund. Sie machen Jagd auf Reiche, besonders aber auf korrupte Parteikader. Regierung und Partei danken es und schlagen nicht selten zu. Reichtum geht bis hin in die Kunstszene. Künstler fahren Porsche, Maybach und Ferrari, besitzen teure Luxuswohnungen und Ateliers. Selbst weltbekannte Dissidenten machen da keine Ausnahme.
Grosse Ereignisse werfen also ihre Schatten voraus. Der 18. Parteitag der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei Chinas wird für die nächsten zehn Jahre die Weichen stellen. Für China und die Welt nicht ganz unerheblich. Was freilich - wie man in China sagt - «hinter dem Vorhang» vor sich geht, ist trotz Internet und leidlich offener Medien wenig transparent. Kein Wunder deshalb, soll es noch kurz vor dem für den 8. November terminierten Partei-Powwow im 300 Mitglieder zählenden Zentralkomitee, dem 24-köpfigen Politbüro und vor allem im entscheidenden neunköpfigen Ständigen Politbüro-Ausschuss noch Meinungsverschiedenheiten geben. Personell und inhaltlich.
«Reich sein ist glorreich». Also sprach der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping vor etwas mehr als dreissig Jahren zu Beginn der Reform. Diese Worte waren damals, nach dreissig Jahren maoistischem Klassenkampf, fürwahr mutig, um nicht zu sagen politisch inkorrekt. Was der kleine grosse Deng damit sagen wollte, war allen Chinesinnen und Chinesen klar. Die Wirtschaft stand fortan wieder im Mittelpunkt und nicht mehr politische Kampagnen. Zwar war eine «rote» Haltung noch immer gut, doch nicht mehr ausreichend, um in Partei, Staat und Wirtschaft Karriere zu machen. «Experten» - unter Mao als «Kapitalisten» beschimpft und als «rechtsabweichlerische» Intellektuelle verfemt - waren wieder gefragt und begehrt. Heute sind nicht wenige Privat-Unternehmer und Milliardäre Parteimitglieder.
Heute freilich sollten Millionäre, Milliardäre und erst recht höchste, hohe und weniger hohe Parteikader vorsichtig sein. «Reich sein ist glorreich» - das war einmal. Ebenfalls das Dengsche Wort: «Es spielt keine Rollle, ob die Katze schwarz oder weiss ist, Hauptsache sie fängt Mäuse». Was Deng im damals noch mausearmen China meinte, war die einfach ökonomische Erkenntnis, dass zuerst einige wohlhabender werden müssen, damit später das ganze Land nachziehen kann. Heute, wo China die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt und Exportweltmeister ist, sind andere ökonomische Tugenden gefragt. Bei einer wachsenden Kluft zwischen Arm und reich sind es Ausgleich, Fürsorge, soziale Harmonie. Der 18. Parteitag muss und wird darauf Antworten finden.
(Peter Achten/news.ch)
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