Die Welt als Wille und Leiche
In der Schweiz wurden letztes Jahr 143 Männer, die 60-jährig oder älter waren, erstmals oder nochmals Vater. Vier davon waren sogar über 80 Jahre alt. Die älteste Mutter der Schweiz ist 64 Jahre alt. Bei Männern hilft Viagra, bei Frauen genügt ein schlichtes Reagenzglas.
Angesichts der Empörung, die vor allem die Seniorenmütter trifft, sehe auch ich mich gezwungen, zu einem Thema Stellung zu nehmen, das mir gefühlsmässig Übelkeit verursacht, geistig indessen einige Herausforderungen stellt. Zunächst eine feministische Position: Wenn Männer schon weit über ihr Potenzalter hinaus frisch und fröhlich Kinder zeugen dürfen, weshalb sollte dies postmenopausierenden Frauen verwehrt sein?
Dies bringt mich zur ersten ethischen Antwort, die nirgends mehr gehört wird: Nur weil etwas möglich ist, bedeutet das noch lange nicht, das Mögliche auch zu tun. Es bedeutet auch nicht, dass das Mögliche richtig ist.
Seit Jahrhunderten wissen wir aber, dass einige Menschen sofort in die Haut des Zauberlehrlings schlüpfen, ist der Herr und Meister (Moral, Solidarität mit anderen Menschen, Begrenzung des Machbarkeitswahns etc) einmal aus dem Haus. Und wir sehen drastisch, dass die Geister, die einige Menschen gerufen haben, kaum mehr loszuwerden sind. Deshalb ist es kurzsichtig, den kinderproduzierenden, dem Verfallsdatum (ein schändlicher, aber dem herrschenden Weltbild angepasster Ausdruck) bedenklich näher kommenden Menschen, individualisierten, entpolitisierten «Egoismus» vorzuwerfen. Denn was sind Menschen? Keine Ahnung, ich weiss nur, dass die Antwort vielschichtig ist.
Menschen handeln je nach Weltbild und politischer Macht und nicht einfach aufgrund irgendwelcher fiktiver «menschlicher Natur» oder ausschliesslich als «Individuen». Der Mensch ist Viele. Der Mensch ist immer auch der oder die Andere, sprich also ein Teil inkarnierte Politik, die sich durch entsprechenden Überzeugungen und Handlungen ausdrückt.
Die Methusalem-Eltern machen also nur etwas sichtbar, was unsere Politik Wirtschaft und Gesellschaft schon längst praktizieren: Alles ist möglich, selbst wenn es unmöglich (schockierend, unlogisch, unmenschlich, gefährlich, vernichtend, freiheitsgefährdend etc.) ist.
Spannend ist, dass die Uropa-Väter und die Uromi-Mütter gleichzeitig mit den momentan so populären Vampiren, Zombies und Ausserirdischen auftauchen. Da soll noch eine behaupten, die Vorstellungswelt stünde mit der realen Welt nicht in einem Diskurs! Die Untoten bevölkern unsere Fantasien so, dass sie nun ihre Entsprechungen in der realen Welt finden. Gemäss Boris Groys sind beispielsweise unsere Museen nichts anderes als Orte für Dinge, die aus dem Zusammenhang ihres lebendigen Gebrauchs entfernt, als Leichen ihr Leben fristen (man beachte doch das schöne Wortspiel...).
Offenbar gibt es ein reales und virtuelles Thema der Gegenwart, das sich an der Grenze zwischen lebendig und untot abspielt. Die Lebenden sind nicht wirklich lebendig, die Toten werden dafür so lange wie möglich am Leben erhalten. Zudem ist das bestimmende Krankheitsbild der westlichen Gesellschaft Demenz und Alzheimer. Was passiert denn da genau? Es erkranken massenhaft Menschen, die nicht mehr fähig sind, die Welt zu erkennen oder sich an die Welt zu erinnern. Sie leben und irgendwie leben sie doch nicht...wirklich. Gleichzeitig werden die sogenannt gesunden Menschen auf ein striktes biopolitisches Programm für fast ewig dauerndes Leben und Gesundheit programmiert. Doch homogenisiert, pasteurisiert und sterilisiert lebt es sich nicht wirklich mehr, oder? Zudem zelebrieren die gesunden Menschen ihren Körper derart, dass sie gar nicht merken, wie viel Energie sie in eine künftige Leiche stecken.
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Das Ziel der kapitalistischen Wirtschaft und Politik ist, das Materielle, das rein Körperlich auf Ewigkeiten hinaus zu erhalten und wenn möglich zu vermehren. Dies tun die Uraltopas und Uraltomas nun der Welt, die sie umgibt, gleich. Sie reproduzieren quasi die Welt als Wille und Leiche. Zu alle dem kommt auch noch die Todesangst hinzu, die in einem Leben ohne Jenseits ein riesiger Antrieb ist, sich im letzten Moment zu vermehren.
Wie man es auch dreht: Dem Fortpflanzungszwang methusalemischer Frauen und Männer haftet der Verwesungsgeruch an. Die Zombies sind die perfekten Metapher. Zombies sind unsterbliche Körper, die aber nichts mehr dessen aufweisen, was Sie und ich noch Mensch nennen würden. Zombies weigern sich zu sterben und mischen sich in Hollywood dreist und mit Gewalt unter die Lebenden. Doch während die Zombies wenigstens in der Fantasie immer besiegt werden, stellen wir mit Schrecken fest, dass in nächster Zukunft es eher wahrscheinlich ist, dass die Krankenkassen Zombiebehandlungen auch noch finanzieren...
(von Regula Stämpfli/news.ch)
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