Durcheinandertal moderner Lebenswelten

publiziert: Mittwoch, 30. Sep 2015 / 11:55 Uhr / aktualisiert: Mittwoch, 30. Sep 2015 / 14:12 Uhr
Verwirrung im Durcheinandertal moderner Lebenswelten.
Verwirrung im Durcheinandertal moderner Lebenswelten.

Es gibt Themen, die verursachen nur Polemik, Hass, Verunglimpfung, Unterstellungen, Streit und viel Leid. Und zwar von allen Seiten, so dass man mit Orwell feststellen muss: «Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den grossen Bruder.» Sie haben sofort verstanden um was es geht: Die Rechtmässigkeit des Burka-Verbots vom letzten Jahr und die H&M-Werbung für den Hijab.

7 Meldungen im Zusammenhang
Weiterführende Links zur Meldung:

Das Buch «Moderne und Ambivalenz»
Zygmunt Baumanns Buch beim Perlentaucher-Verlag.
perlentaucher.de

Das fragliche H&M-Video
Das Werbevideo via die Website der Daily Mail.
dailymail.co.uk

2011 beschloss das französische Parlament das Burka-Verbot. Dagegen klagte eine Muslimin auf Diskriminierung. Allein dies hätte eigentlich schon Anlass sein müssen, tiefgreifendere Rechtsdebatten anzustossen: Die religiös-fundamentalistische Diskriminierung der Frauen sollte durch säkularisierte Antidiskriminierungsgesetze geschützt werden. Über Kopftuch, Burka, Hjiab und all die anderen Sozialtechniken zur Entsubjektivierung der Menschen mit Menstruationshintergrund sind schon abertausende Seiten Schrott verfasst worden. Da war es erfrischend, dass der europäische Gerichtshof für Menschenrechte wenigstens in einer Frage, nämlich den Mindestanforderungen für das Zusammenleben unter Menschen, Klarheit brachte.

Erstens stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, nicht zu verwechseln mit dem EuGH, der nur für Brüssel und die europäischen Verträge und meist gegen die Rechte der Europäer zuständig ist und in Luxemburg sitzt, also erstens stellte der EGMR, quasi der «Gutmensch» unter den Gerichten, fest: Das Verbot, auf europäischen Strassen Ganzkörperschleier zu tragen, entspricht den europäischen Menschen- und Grundrechten. Dies ist revolutionär wichtig. Unschön daran ist nur, dass es zur Durchsetzung der Menschen- und Grundrechte ein Verbot brauchte, um einem verfassungsrechtlich verbrieften Anspruch auf Gleichheit zwischen Menschen gerecht zu werden. Zweitens stellte der EGMR fest, dass es Minimalforderungen fürs gesellschaftliche Zusammenleben gäbe: Dazu gehöre immer und auf jeden Fall die «Erkennbarkeit des Gesichts für Mitmenschen», denen man im öffentlichen Raum begegne. Schön wäre es auch gewesen, der EGMR hätte weitere Minimalforderungen diesbezüglich definiert, nämlich beispielsweise der Anspruch jedes Menschen auf ein bedingungslos garantiertes Grundeinkommen. Doch dies muss erst noch eingeklagt werden.

Soweit so komplex. Der EGMR hat mit dem Burkaverbot aber die Rechnung ohne den gleichmacherischen Kapitalismus gemacht, der nicht mehr zwischen Klassen, sondern nur noch zwischen denen unterscheidet, die Kapital haben oder Kapital sind. Anders gesagt: Dem Kapitalismus sind Menschen-und Grundrechte völlig egal, Hauptsache, sie lassen sich monetarisieren, d.h. zu Geld machen.

So feiert deshalb der britische «Guardian» eine H&M-Werbung als Erfolg für die britische Toleranz und die vielfältige Lebensweise auf der Insel. Dies ist insofern interessant als dass der Guardian in allen anderen Themen sonst sehr kritisch berichtet und in jeder persönlichen Handlung sofort auf die nach wie vor herrschende Klassengesellschaft Grossbritanniens hinweist. So wurde der tote Schweinskopf-Fick (entschuldigen Sie die Drastik, die nur dem Akt geschuldet ist) von Premierminister David Cameron richtigerweise als Ausdruck, Symbol und Legitimation des unfassbar grässlichen Klassensystems Grossbritannien, in dem sich die Oberschicht oft und gerne auch mit dem Verbrennen einer 50-Pfundnote vor einem Obdachlosen «vergnügt», gedeutet. In der Analyse der H&M-Werbung indessen verpasste der «Guardian» den Klassenaspekt - ein nicht unüblicher Vorgang, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Freiheitsrechten, dem Subjektstatus, der Emanzipation von Menschen mit Menstruationshintergrund auf Seiten der Linken geht. Beim Hijab überschlug sich der «Guardian» mit der Lobhudelei für die gelungene H&M-Kampagne, die von «look chic» zu «look sheik» im Satz gipfelt: «There are no rules in Fashion but one: Recycle your clothes.»

Einmal einen Hijab und die Fashionindustrie ist entlastet? Wie war das nochmals mit den unerträglichen Arbeitsbedingungen von Frauen und Kindern in den Textilfabriken in Bangladesh, Kambodscha, China und Vietnam? Weshalb wird jeder Macht- und Klassenaspekt, sobald es um die Identitätsfragen beispielsweise von Frauen geht, einfach ausgeschaltet als ob dieser nur zweitrangig wäre in der Beurteilung von Freiheitsrechten? Was mich zu Zygmunt Baumann führt.

Zygmunt Bauman schreibt in seiner «Moderne und Ambivalenz» über die Sozial- und Kulturtechniken, die es der Gegenwart verunmöglichen, die Zweischneidigkeit von Aufklärung und Unterdrückung überhaupt zu benennen. In Werbung und Wissenschaft wird also dem Bedürfnis nach Rationalität oberflächlich nachgegeben, das dann aber nur Ignoranz, Aberglaube und Wirklichkeitsverlust mit sich bringt. Die Sprache der Aufklärung hat sich zu einer Sprache der Wahlmöglichkeit entwickelt. «Die Bestätigung der Rationalität der eigenen Handlungen und Überzeugungen wird zu einer Art Aufenthaltserlaubnis, die ständig erneuert werden muss und nur bei guter Führung erneuert wird» (S. 353 Bauman). So gibt es im öffentlichen Diskurs so etwas wie eine intellektuelle Polizei, die jede Abweichung der von ihr deklarierten Rationalität diffamiert. So werden Macht und Abhängigkeit regelrecht verschleiert, siehe die Klage der Muslimin und die Werbung von H&M.

Gerade die Diskussion um das Burkaverbot einerseits und die Feier der Vielfalt von Hijabs manifestieren das Durcheinandertal moderner Lebenswelten, das uns aber nicht davon entlastet, immer wieder eine Urteilskraft zu entwickeln, die wenigstens den Versuch einer akkuraten Beschreibung der Welt wagt. Eine Beschreibung, die es Menschen ermöglicht, den Zusammenhang einzelner Informationen zu verstehen und sie zu verknüpfen. Der EGMR lag beim Burkaverbotsentscheid völlig richtig, der «Guardian» mit seiner Lobhudelei zu H&M nicht und zwar aus demselben Grund: «Die gründliche, harte und kompromisslose Privatisierung aller Interessen war der Hauptfaktor, der die postmoderne Gesellschaft so spektakulär immun gegen systemische Kritik und radikalen gesellschaftlichen Dissens mit revolutionärem Potential gemacht hat. (...) Was wirklich zählt ist, dass es den Bewohnern der postmodernen Gesellschaft nicht einfallen würde, dem Staat wegen der Probleme, die sie haben mögen, Vorwürfe zu machen und noch weniger zu erwarten, dass alsbald die Heilmittel gereicht werden. Die postmoderne Gesellschaft hat sich als eine nahezu perfekte Übersetzungsmaschine erwiesen - eine, die jede bestehende und zukünftige soziale Streitfrage als private Sorge interpretiert.» (Bauman, S. 411)

(Regula Stämpfli/news.ch)

Kommentieren Sie jetzt diese news.ch - Meldung.
Lesen Sie hier mehr zum Thema
Dschungelbuch «Köln» wird medial als Metapher als «neue» Diskussion behandelt. Dies hat System. «Neu» ist medial «relevant», «neu» veraltet ... mehr lesen
Der Frauenkörper als Verhandlungsort von Politik oder über die Illusion, als Frau frei zu sein.
Niemand soll in der Öffentlichkeit sein Gesicht bedecken.
Bern - Ein Burkaverbot soll in der ganzen Schweiz gelten, verlangt der Solothurner SVP-Nationalrat Walter Wobmann mit einer parlamentarischen Initiative. Die Staatspolitische ... mehr lesen 3
Bern - Ein Verbot für der Burka ... mehr lesen 7
Auch in der eher weltoffeneren Romandie sprachen sich 60 Prozent der Befragten für ein Burkaverbot aus.
Das Kopftuch darf getragen werden. (Symbolbild)
St. Gallen - Eine muslimische ... mehr lesen
Dschungelbuch Der europäische Gerichtshof für ... mehr lesen 1
Auch ihr ging es um Rechte als Mensch und nicht um Priviligierung als Frau: Verhaftete Frauenrechtlerin in London vor genau 100 Jahren.
Weitere Artikel im Zusammenhang
.
Digitaler Strukturwandel  Nach über 16 Jahren hat sich news.ch entschlossen, den Titel in seiner jetzigen Form einzustellen. Damit endet eine Ära medialer Pionierarbeit. mehr lesen 22
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: ...
«Männer stimmten für Hofer, Frauen für Van der Bellen» titelte die FAZ nach dem Wahlkrimi in Österreich. «Warum wählen junge Männer so gern rechts?» fragte jetzt.de einen Soziologen. «Duh» war meine erste Reaktion, hier ein paar weitere. mehr lesen 3
Gewinnorientierte Unternehmen wie der ORS machen aus der Flüchtlingshilfe ein Geschäft. Das Rote Kreuz und die Caritas, die gemeinnützig sind und seit Jahren über grosse Erfahrung in der Betreuung von Menschen auf der Flucht ... mehr lesen
Flüchtlinge (hier in Mazedonien): Mit Gewinnziel zu verwaltende Konkursmasse oder doch Menschen?
Armeechef Blattmann: bedenklicher Umgang mit demokratischen Grundrechten.
Korpskommandant André Blattmann wird von den Mainstreammedien der «Beleidigung» bezichtigt. Er nannte den Rundschau-Chef Sandro Brotz, «Sandro Kotz.» Wer meint, dies sei nur ein Sturm im Wasserglas, irrt. Blattmann ... mehr lesen   2
«Bist Du nicht willig, stimmen wir ab.» So lautet die Devise der unschweizerischen bürgerlichen Mehrheit seit den Wahlen im Herbst 2015. «Wie schamlos hätten Sie es denn gerne?» titelte klug (aber leider zu spät) der TagesAnzeiger. Zeit für eine Umfrage- und Medienschelte. mehr lesen   2
Typisch Schweiz Der Bernina Express Natürlich gibt es schnellere Bahnverbindungen in den Süden, aber wohl ...
Highlight der Kollektion: Eine Gibson Les Paul von 1959, die 300.000 bis 500.000 Pfund einbringen soll.
Shopping Mark Knopfler verkauft seine Gitarrensammlung Die Gitarrensammlung vom Dire Straits-Gitarristen Mark Knopfler wird am 31.01.2024 bei Christie's versteigert.
Erstaunliche Pfingstrose.
Jürg Zentner gegen den Rest der Welt.
Jürg Zentner
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.
Regula Stämpfli seziert jeden Mittwoch das politische und gesell- schaftliche Geschehen.
Regula Stämpfli
«Hier hätte ich noch eine Resistenz - gern geschehen!» Schematische Darstellung, wie ein Bakerium einen Plasmidring weiter gibt.
Patrik Etschmayers exklusive Kolumne mit bissiger Note.
Patrik Etschmayers
Obama in Hanoi mit der Präsidentin der Nationalversammlung, Nguyen Thi Kim Ngan auf einer Besichtigungstour: Willkommenes Gegengewicht zu China.
Peter Achten zu aktuellen Geschehnissen in China und Ostasien.
Peter Achten
Recep Tayyp Erdogan: Liefert Anstoss, Strafgesetzbücher zu entschlacken.
Skeptischer Blick auf organisierte und nicht organisierte Mythen.
Freidenker
 
Stellenmarkt.ch
Kreditrechner
Wunschkredit in CHF
wetter.ch
Heute Mi Do
Zürich 4°C 17°C freundlichleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich wechselnd bewölkt, Regen
Basel 6°C 18°C recht sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich wolkig, aber kaum Regen
St. Gallen 2°C 14°C recht sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich wechselnd bewölkt, Regen
Bern 4°C 17°C freundlichleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich wechselnd bewölkt, Regen
Luzern 4°C 17°C sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich wechselnd bewölkt, Regen
Genf 6°C 17°C freundlichleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich wolkig, aber kaum Regen
Lugano 7°C 18°C sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt freundlich
mehr Wetter von über 8 Millionen Orten