Freihandel - zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre

publiziert: Montag, 1. Jul 2013 / 14:01 Uhr / aktualisiert: Montag, 8. Jul 2013 / 14:41 Uhr
Seattle 1999: Der erste Schritt zur Demokratieabschaffung findet trotz Protesten statt.
Seattle 1999: Der erste Schritt zur Demokratieabschaffung findet trotz Protesten statt.

1998 entwarf die neu gegründete Welthandelsorganisation mit Sitz in Genf das «Multilaterale Abkommen für Investitionen», kurz MAI genannt. Die 29 grössten Industrieländer und deren Vertreter der multinationalen Konzerne vereinbarten eine neue Weltwirtschaftsverfassung. Was sich als Abkommen über Investitionen tarnte, war in Tat und Wahrheit die Umkrempelung der Welt mit finanziellen Mitteln.

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1999 in Seattle war dann die letzte WTO-Konferenz, gegen welche die Menschen noch offen, friedlich und in Massen gegen die in den Verhandlungsräumen sitzenden alt-68er und neorechten Ayn-Rand-Anhänger protestieren und demonstrieren durften, ohne das eigene Leben, die eigene Gesundheit und die eigene Karriere zu gefährden, wobei es auch schon damals zu gewalttätigen Zusammenstössen kam. Es war auch das letzte Mal, dass die Mainstreammedien drüber inhaltlich korrekt und sinnzusammenhängend berichteten. Seitdem herrscht die WTO via Konferenzen an obskuren Orten und regiert von ihrem Hauptsitz in Genf aus, wo nie wirklich demonstriert werden kann und wird, weil es ja sonst den calvinistisch sauber geputzen Rasen verschmutzen könnte.Die Medienbeobachtung der WTO ist gleichzeitig zu einem Niemandsland der verblendeten Wirtschaftsjournalisten verkommen.

Was wollte das MAI und weshalb erzähle ich Ihnen diese «alte» Geschichte? Das MAI proklamierte objektive, neutrale überstaatliche Gerichte und Instanzen, welche für alle Finanzstreitigkeiten und wirtschaftlichen Konflikte zuständig sein sollten. Das MAI setzte alle Sozial-, Gesundheits- und Umweltschutzbestimmungen betreffend Arbeit ausser Kraft, weil es über den nationalen Gesetzen, die demokratisch zustande gekommen waren, stehen sollte. Das MAI sollte 20 Jahre gelten, egal welche Regierungen wann und wo gewählt wurden. Das MAI verpflichtete alle Mitglieder für den Vollzug der Bestimmungen innerhalb des Abkommens. Alle «Ungleichbehandlungen» konnten und mussten von den nationalen staatlichen Autoritäten im Sinne des MAI beseitigt werden, d.h. hiess beispielsweise, dass der Mindestlohn eines Staates sofort für mit dem MAI nicht kompatible Bestimmung ausser Kraft gesetzt werden konnte. Der grösste Witz der Geschichte war: Die sozialdemokratischen Minister Europas waren alle für das MAI .

Ich erzähle Ihnen diese «alte» Geschichte, weil das MAI 1999 zwar nicht verabschiedet werden konnte, doch alle nachfolgenden sogenannten Freihandelsabkommen sich an diesem Muster orientierten. Zudem stürzte das MAI nicht aufgrund von kritischen Medienberichten, Recherchen und Hintergrundsanalysen der Mainstreammedien - im Gegenteil, die checkten überhaupt nicht, was Sache war, sondern nur aufgrund der damals noch gut organisierten NGOs - namentlich Oxfam. Seit 20 Jahren ist nun das MAI überall. Da wird uns europäischen Bürger und Bürgerinnen mit sogenannt neutralen, friedlichen Mitteln eine Wirtschafts- und Währungsunion propagiert während sie in Wirklichkeit nichts anderes ist, als ein Feldzug gegen alle über Jahrhunderte erkämpfte demokratischen Rechte und Pflichten einiger europäischen Länder.

Wenn EU-Kommissar Barnier beispielsweise behauptet, die neue EU-Richtlinie betreffend die Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinden hätte überhaupt nichts mit der Privatisierung öffentlicher Güter wie beispielsweise Wasser, Bildung und Altersvorsorge zu tun, dann lügt er nicht nur wie gedruckt, sondern die Medien, allen voran die linksliberale Zeit, stehen ihm bei und rufen alle unisono: «Das ist eine Wettbewerbsvorschrift, keine Privatisierung.» Das klingt exakt wie die Taliban, die den Schulunterricht für Mädchen verbieten, mit dem Argument: «Dies hat nichts mit Diskriminierung von Mädchen und Frauen zu tun, sondern es geht nur um unsere Religionsfreiheit». Wenn die EU mit den USA ein umfassendes Freihandelsabkommen abschliessen will - wie dies gegenwärtig der Fall ist - dann wird offiziell und von den Medien in völliger Verkennung der politischen, sozialen und ökologischen Folgen proklamiert. «Es geht um Freihandel, Arbeitsplätze und Wohlstand». Dabei geht es in Tat und Wahrheit - wie in jedem Freihandelsabkommen - nur darum, alle sozialen, demokratischen und ökologischen Errungenschaften ausser Kraft zu setzen. Ebenso ist seit Jahren ein Prozess im Gange, unter dem Deckmantel von globalen Finanz-, Technik- und Bildungsinvestitionen alle politischen Dämme, die nach dem völligen Niedergang der westlichen Zivilisation gegen das Wiedererwachen des Nationalsozialismus eingerichtet wurden, einzureissen.

Es ist Zeit, dies endlich zu realisieren. Auch ich brauchte Jahre um festzustellen, dass sämtliche sogenannten wirtschaftlichen und finanziellen Fortschritte kurzfristig den Lebensstandard meiner und der alten Generation (eben derjenigen, die im Zuge nach 1968 von links und rechts die Welt neu gestalteten) verbesserten während sie die Lage global, für die jüngeren Menschen und für Menschen ausserhalb Europas direkt ins Verderben katapultieren. Stand die europäische Aufklärung für Bildung, Freiheit, Gleichheit und Solidarität, ist dieses verdammte Freihandelsgequatsche mit universitär-industrieller-technischer Unterstützung mehr und mehr einzig auf die Unterwerfung aller Menschen unter die Bedürfnisse eines finanzpolitisch maroden und Demokratie zerstörenden System gerichtet.

Denken Sie an den Aufstand der Franzosen gegen den Einbezug der Kultur in die neuen Freihandelsverhandlungen zwischen der EU und der USA. Da werden uns via Medien die Märchen der rückständigen und chauvinistischen Franzosen vermittelt, während es eigentlich nur darum geht, dass Franzosen und Französinnen für ihre kulturelle Vielfalt und Eigenständigkeit, Freiheit und Demokratie wie die zivilisierten Grundrechte einer modernen Verfassung kämpfen.

1999 wurde ich in den Verhandlungen zur WTO mit dem Argument ausgebremst, dass wirtschaftliche und finanzpolitische Instrumente nicht mit sozialpolitischen Instrumenten vermischt werden sollten. Ein paar Jahre vorher predigte mein ökologischer Freund ebenso, dass Umweltpolitik sich nicht um die Sozialpolitik kümmern konnte. Dabei ist es ganz einfach. Ohne politische Demokratie darf es kein einziges finanzielles und wirtschaftliches Abkommen geben. Denn was es bedeutet, auf allen Ebenen die Wirtschafts- und Währungsunion durchzusetzen und gleichzeitig die demokratischen Rechte mit Füssen zu treten, sehen wir an allen Ecken und Enden. Die Konsequenz ist klar: Es wird, darf, kann kein einziges Freihandelsabkommen mehr geben bis nicht die Sozial-, Demokratie- und Umweltstandards garantiert sind. Dies war 1998 und 1999 bei der Verhinderung des MAI noch vielen klar. Es ist höchste Zeit, dass wir auch 2013 erkennen, welch lügnerische Worthülsen sich hinter so schön klingenden Worten wie Freihandel verstecken.

(Regula Stämpfli/news.ch)

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