Fürchtet Euch nicht.....
Vor rund dreissig Jahren war China noch ein mausearmes Entwicklungsland, durch Plan- und korrupte Misswirtschaft so heruntergekommen wie heute beispielsweise Burma oder Nordkorea.
Dann kam das grosse Erwachen aus einem Traum, dem allein von utopischen Visionen Mao Dsedongs verursachten Albtraum von Hunderten Millionen Chinesinnen und Chinesen. Der Albtraum: Mao war verantwortlich für den «Grossen Sprung nach Vorn» von 1958-61, der zur grössten Hungersnot der Weltgeschichte führte. Anschliessend kam das Chaos der «Grossen Proletarischen Kulturrevolution» von 1966-76. Bilanz: Insgesamt rund 45 Millionen Tote.
Dann das grosse Erwachen. Das Datum lässt sich präzise festmachen. Es war der 18. Dezember 1978, als das Dritte Plenum des 11. Zentralkomitees das Ende des Klassenkampfes und den Beginn der Wirtschaftsreform einleitete. Als «Architekten der Reform» feiern seither die Chinesen den grossen Revolutionär Deng Xiaoping. Deng war zwar stets ein treuer Anhänger Maos – auch während der Grossen Hungersnot – doch er war immer auch ein Pragmatiker und vor allem ein begnadeter Administrator. Die Reform entstand echt asiatisch, das heisst nicht nach einem Masterplan wie im Westen, sondern pragmatisch oder wie sich Deng ausdrückte: «Schritt für Schritt den Fluss überqueren und dabei die Steine unter den Fusssohlen spüren» und die «Wahrheit in den Tatsachen suchen». Fortan war «Reich sein glorreich» und es spielte laut Deng keine Rolle mehr, «ob die Katze weiss oder schwarz ist, Hauptsache sie fängt Mäuse». Der Rest ist Geschichte.
Und was für eine. Heute ist China weltweit jenes Land mit den sattesten Wachstumsraten (durchschnittlich +9,5% pro Jahr in den letzten dreissig Jahren), zudem der grösste Exporteur und die zweitgrösste Volkswirtschaft. Mit über 2,5 Billionen US-Dollar verfügt Peking über die grössten Währungsreserven. Nr. 1 ist China auch mit den meisten Handynutzern (über 800 Millionen), der grössten Internetgemeinde (über 400 Millionen) und den meisten Studenten (jährlich rund 7 Millionen Neuzugängen). China ist aber auch Atom- und Weltraummacht mit grossen, immer besser ausgerüsteten und ausgebildeten Streitkräften.
Superlative gibt es natürlich auch in andern Bereichen. China ist eine der grössten Dreckschleudern der Welt, nicht zuletzt wegen seines wirtschaftlichen Erfolges. Das Reich der Mitte deckt sich weltweit aggressiv mit Rohstoffen und Erdöl ein, nicht kolonial oder militärisch, sondern mit den üppig vorhandenen Reserve-Dollars. China hat – die alle zehn Jahre stattfindende Volkszählung ist eben im Gang – noch immer die grösste Bevölkerung (bald 1,4 Milliarden Menschen), aber mit bereits über zehn Prozent der Bevölkerung auch die meisten alten Leute. Die Liste der Superlative liesse sich problemlos erweitern. Vielleicht einen letzten, für die Zukunft nicht ganz unerheblichen: nach repräsentativen Umfragen blicken Chinesen und Chinesinnen weltweit am hoffnungsvollsten in die Zukunft, sind, ebenfalls nach Umfragen, jedoch – das sei am Rande beigefügt - längst nicht so glücklich wie die Schweizer.
Der Westen reibt sich ob all dieser chinesischen Leistungen die Augen, hin und her gerissen zwischen Bewunderung und Furcht. Die westlichen Medien bedienen diese Emotionen, meist krass schwarz-weiss und nicht farbig mit Zwischentönen. Was also, fragen sich viele ängstlich, bringt das kommende Jahrzehnt? Wird Chinas Wirtschaft weiter im vorgelegten Tempo wachsen? Wird China die Welt aufkaufen, so wie einst – muss man hier dazwischenrufen - Japan in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts? Wird es zu einem Krieg mit den USA kommen? Wegen der Taiwanfrage oder gar wegen Nordkorea? Ist China im Innern stabil? Wird China die verantwortungsvolle, wenn auch eher bescheidene Rolle in der internationalen Gemeinschaft weiter spielen? Oder wird China mit seinem ganzen wirtschaftlichen Erfolg nun aggressiver in der weltweiten Arena agieren.
Das ultimative Diktum freilich, seit Beginn des Jahrhunderts von seriösen ebenso wie von unseriösen Zukunftsforschern, Ökonomen, Historikern und assortierten Pundits immer und immer wieder aufs Tapet gebracht: China wird Amerika als Weltsupermacht ablösen, kurz, das 21. Jahrhundert wird ein chinesisches sein.
Gemach, gemach! Solch langfristige Prognosen sind, wie ein Rückblick nur auf Voraussagen vor zehn Jahren eindrücklich lehrt, unseriös, wenig hilfreich und in der Regel falsch. Die Welt ist komplex, und wenn nur wenige Parameter sich verändern, sind Voraussagen Schall und Rauch. So besehen sind Amerika und Europa auch nach Ansicht vieler chinesischer Ökonomen und Sozialforscher noch längst nicht alte Geschichte. Wir leben in einer globalisierten und interdependenten Welt. Die Volksrepublik ist mithin, auch und gerade im kommenden Jahrzehnt, genauso abhängig von Europa und Amerika wie umgekehrt.
Denn in der Tat ist das kommende Jahrzehnt für China entscheidend. Das ist nicht nur die Meinung von Ökonomen sondern auch die Überzeugung des allmächtigen Ständigen Ausschuss des Politbüros. Was in den nächsten Jahren wirtschaftlich, vor allem aber auch sozial und politisch von den neun Politbüro-Mitgliedern in die Wege geleitet wird, ist für die künftige Stellung Chinas in der Welt massgebend.
Im Innern muss mit moderatem Wachstum Stabilität bewahrt werden. Der wachsende Mittelstand muss politisch bei der Stange gehalten werden, ohne die dringend notwendige Einebnung der Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land zu vernachlässigen.
Schliesslich stellen Umwelt, Energieversorgung und der aussenpolitische Balanceakt grosse Herausforderungen. 2012 kommt es zudem zur Wachablösung in den Spitzenämtern von Partei und Regierung. Zwar ist wenig wahrscheinlich, dass die neuen roten Mandarine – bekannt als bereits mächtige Politbüro-Mitglieder – eine gänzlich andere Richtung einschlagen werden, doch kommt es immer wieder, wie auch die jüngste Zeitgeschichte lehrt, zu historischen Un- und Zwischenfällen.
Deshalb hier ein vorsichtiger Blick aufs neue Jahrzehnt. China wird wirtschaftlich weiterwachsen, wenn auch etwas moderater. Die Pekinger Zentralregierung wird wie bereits im ersten Jahrzehnt versuchen, nicht nur alles unter Kontrolle zu halten, sondern auch das beste für die Chinesinnen und Chinesen herauszuholen. Deng Xiaopings grosses Ziel «Xiaokang», nämlich bescheidener Wohlstand für alle bis zur Jahrhundertmitte, wird – geht alles seinen normalen Lauf – mit Sicherheit erreicht werden. Ob das westliche Modell mit Demokratie oder das staatsautoritäre Modell Chinas schliesslich die Oberhand gewinnen wird, kann erst die Zukunft zeigen. Indien mit der weltgrössten Demokratie ist die Messlatte.
Dem Westen sei empfohlen, das Reich der Mitte nach Dengs Motto «die Wahrheit in den Tatsachen suchen» zu beobachten und danach zu handeln Weniger China-Hype, mehr Realitätssinn und mehr gesundes Selbstvertrauen tun dringend Not. Weder Europa noch Amerika haben etwas von China zu befürchten. Die Herausforderung liegt bei uns.
(von Peter Achten/news.ch)
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