Lebenselixier unserer Gesellschaft

Grenzenloses Wirtschaftswachstum ade - was folgt?

publiziert: Donnerstag, 24. Jul 2014 / 08:00 Uhr

Politik, Wirtschaft und Medien fordern und fördern es unablässig: Das Wachstum! Es gilt als Lebenselixier unserer Gesellschaft. Doch das westliche Wachstumsmodell lässt sich ökologisch nicht durchhalten und es verursacht inzwischen mehr gesellschaftliche Probleme, als es löst. Weswegen wir uns auf eine Postwachstumsära einstellen sollten.

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Geringes, ausbleibendes oder gar negatives Wirtschaftswachstum bestimmt aktuell die Schlagzeilen und Politikersorgen. Wer meint nicht, es müsse alles getan werden, damit unsere Ökonomien wieder - und mehr - wachsen? Dazu überschwemmen die Notenbanken die Finanzmärkte mit Geld, riskieren sehenden Auges neue Finanzblasen und scheitern gleichwohl an der vielerorts begrenzten Kreditnachfrage durch Unternehmen und Private (was angesichts deren hohen Verschuldung nicht erstaunt). Regierungen wollen sich vom engen Korsett der Ausgabendisziplin befreien und eine expansive Fiskalpolitik betreiben, also mit öffentlichem Geld Wachstum ankurbeln - und damit die öffentliche Verschuldung weiter erhöhen.

Das Wachstum stösst an seine Grenzen

Bei genauerem Hinsehen irritiert diese Fixierung auf Wachstum. Denn fast jedes westliche Land, inkl. OECD, räumt inzwischen ein, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP), jene Masseinheit also, deren Zuwachs Wirtschaftswachstum bedeutet, keinen Aufschluss über das Wohlbefinden der Bevölkerung gibt. Mehr noch: Vieles deutet darauf hin, dass sich in reichen Ländern Wirtschaftswachstum negativ auf das Wohlbefinden auswirkt. Auch häufen sich inzwischen Studien, die nachweisen, dass in den letzten Wachstumsjahrzehnten die sozialen Unterschiede deutlich zugenommen haben. Diesen Trend würde eine anziehende Wirtschaft nicht umkehren, hat man doch bislang keine neue Verteilungspolitik eingeläutet - oft gerade auch, um das Wachstum nicht zu gefährden. Weiter: In den letzten Jahrzehnten ist in den meisten Ländern die Arbeitslosigkeit kontinuierlich gestiegen. Dies unter anderem, weil Wachstum aufgrund technischen Fortschritts Arbeit freisetzt ? vielmals mehr, als es neue Arbeit kreiert. Schliesslich: Wachstum und Umweltverbrauch sind eng gekoppelt, der Umweltverbrauch nimmt mit Wachstum proportional zu. Klima- und Ressourcenschutz ist bei Wachstum eine Illusion, grünes Wachstum ist eine Leerformel.

All dies zeigt deutlich, dass Wachstum keine fundamentalen Probleme der Gesellschaft (mehr) löst, sondern vielmehr Probleme verschärft. Und trotzdem: Wachstum wird lautstark und von gewichtigen Stellen gefordert. Weshalb?

Warum wir Wachstum scheinbar «brauchen»

Der Grund liegt darin, dass zentrale Bereiche unserer Gesellschaft existentiell wachstumsabhängig sind: Unser Renten-und Gesundheitssystem, viele Unternehmen, insbesondere die grossen, der Banken- und Finanzsektor, die Konsumindustrie und die öffentlichen Finanzen. Diese Bereiche in ihrer heutigen Form sind in einer Zeit entstanden, als man von dauerhaftem Wachstum ausging. Entsprechend sind sie systembedingt auf Wachstum angewiesen, um zu funktionieren. Doch es zeigt sich, dass die westlichen Industriestaaten die «Traum»-Wachstumsquoten früherer Jahrzehnte - vergleichbar mit denjenigen aufstrebender Schwellenländer - nicht mehr erreichen. Wenn nun die genannten Gesellschaftsbereiche wegen unzureichendem gesamtwirtschaftlichem Wachstum - sei es strukturell oder krisenbedingt - in existentielle Not geraten, wird die Politik alles machen, um dies zu verhindern - und sie wird das fordern, was sie kennt, nämlich Wachstum.

Postwachstumsgesellschaft als Aufgabe

Eine Abkehr von der Wachstumsfixierung setzt ein öffentliches Bewusstsein für das Problem voraus, vor allem aber Lösungen, wie man die Wachstumsabhängigkeit in den einzelnen Bereichen beenden kann. Doch gerade zu Letzterem wissen wir noch wenig. Solange aber weder die Politik noch unsere Gesellschaft wissen, wie die wachstumsabhängigen Bereiche umstrukturiert und auf einen wachstumsneutralen Weg gebracht werden können, wird keine Abkehr vom Wachstumsparadigma stattfinden. Denn die Politik lässt sich nicht auf Experimente mit
ungewissem Ausgang ein, sondern hält lieber am Bekannten fest.

Die Herausforderung, die sich daraus ergibt: Politik und vor allem die Zivilgesellschaft müssen Konzepte für die Transformation der wachstumsabhängigen Bereiche entwickeln und Erfahrungen mit deren Umsetzung sammeln. Dabei müssen wir das Rad nicht neu erfinden. In vielen Bereichen gibt es bereits lange Reformdebatten sowie gelebte Ansätze und Experimente in Nischen. Was es bedarf sind viel Kreativität, Innovationsgeist, Gestaltungskraft und Bereitschaft, neue Wege zu gehen.

Aufgabe ist es nun, den unvermeidlichen Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft zu gestalten. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die zentralen gesellschaftlichen Bereiche wachstumsunabhängig sind, dass es weder ein Wachstumsgebot noch ein Wachstumsverbot gibt und die Ressourcen- und Umweltnutzung ein nachhaltiges Niveau hat.

(Dr. Irmi Seidl/ETH-Zukunftsblog)

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Irma Seidl ist Dozentin für Ökologische Ökonomik an der WSL, der ETH Zürich und der Universität Zürich.
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