Hüter der Gebärmütter
Seit über einem Jahr wird im Parlament über das neue Fortpflanzungsmedizingesetz gestritten - das alte von 1998 ist angesichts der Erfolge in der Reproduktionsmedizin hoffnungslos veraltet. Einigen Fortschritten in der Debatte zum Trotz meint eine Mehrheit im Parlament noch immer, dass es sinnvoll sei, Frauen dazu zu zwingen, behinderte Kinder auf die Welt zu bringen.
Präimplantations-Diagnostik (PID)
Wikipedia-Artikel zur PID
wikipedia.de
Erbkrankheit Glykolisierung
Wikipedia-Artikel (Englisch) zur vererbbaren Krankheit der Glykolisierung
wikipedia.org
Jede 2. Schwangerschaft Endet in Fehlgeburt
Wikipedia-Artikel über Fehlgeburten
wikipedia.de
Amtliches Bulletin des Ständerates zum Thema
Amtliches Bulletin Ständerat 8.9.2014, Präimplantionsdiagnostik, Änderung der BV und des Fortpflanzungsmedizingesetzes:
parlament.ch
Als Mann bin ich fein raus, denn mein Körper existiert in einer rechtlichen Freizone. Grundsätzlich gilt: Was ich mit meinem Körper anstelle, geht niemanden etwas an. Die Gesellschaft interessiert sich nicht für meine Körperfunktionen, auch nicht für diejenigen meiner Reproduktionsorgane. Und das ist auch gut so, denn ansonsten würde ich mich früher oder später des milliardenfachen Genozids beschuldigen lassen müssen.
Auch als kinderloser Mann kann ich nachvollziehen, dass eine Schwangerschaft wohl zum Prägendsten gehört, was eine Frau erleben kann. Nun mag es zwar sein, dass auch dem Mann hier gewisse Rechte und Pflichten erwachsen, es liegt aber doch auf der Hand, dass die blosse Bereitstellung von ein wenig DNS weit weniger körperlichen und emotionalen Einsatz bedeutet, als eine neunmonatige Schwangerschaft. Von der daran anschliessenden Geburt gar nicht zu reden. Aus diesem Grund besteht in der Gesellschaft Konsens darüber, dass es primär die Frau sein soll, die wenigstens in den ersten zwölf Wochen dieser neun Monate darüber entscheiden soll und kann, ob sie den Zellklumpen, der sich in ihr eingenistet hat, zu einem Embryo und schliesslich zu einem Menschen auswachsen lassen will.
Und jetzt wird es kompliziert. Denn obwohl wir der Frau in den ersten zwölf Wochen zugestehen, über ihren Körper und seine Funktionen frei zu verfügen, schränken wir ihre Möglichkeiten, sich über das Funktionieren ihres Körper zu informieren, ein. So beispielsweise bei der Präimplantationsdiagnostik (PID), die laut dem Willen des Bundesrates nur dann angewendet dürfte, wenn in der Familie des Elternpaares schwere Erbkrankheiten vorhanden sind. Untersuchungen auf chromosomale Anomalien hätten weiterhin verboten bleiben sollen.
PID ist seit den frühen 1990er Jahren verfügbar und bezieht sich ausschliesslich auf durch In-vitro-Fertilisation erzeugte Embryonen - soviel zum Argument, PID pfusche «der Natur ins Handwerk». Die Untersuchung geschieht dabei in der Regel am dritten Tag nach der Befruchtung, der Embryo besteht zu diesem Zeitpunkt aus sechs bis zehn Zellen. Man kann also noch nicht einmal von einem Zellklumpen sprechen.
Die Schweiz ist, zusammen mit Österreich und Italien, eines der wenigen europäischen Länder, in denen PID komplett verboten ist. Nach langem Hin und Her hat sich diesen September nach dem National- nun auch der Ständerat darauf geeinigt, dass immerhin Chromosomentests (die Diagnose von Erbkrankheiten war von Anfang an unumstritten) erlaubt werden sollen. Beendet ist die Diskussion um die Liberalisierung von PID in der Schweiz damit aber noch lange nicht; der Entwurf ging wieder zurück in den Nationalrat.
Brigitte Häberli (CVP/TG) vertrat in der Debatte die Meinung, behinderte Kinder würden immer mehr als «vermeidbare Last» angesehen. Das stimmt so selbstredend nicht. Ja, natürlich, sie können von betroffenen Paaren als vermeidbare Last angesehen werden, aber das ist eine Ansicht, die ich mir nie im Leben zu hinterfragen wagte, denn es ist nicht an mir, zu beurteilen, ob dieses Paar so eine Aufgabe stemmen kann. Frau Häberli scheint hier in die Köpfe der entsprechenden Paare hineinsehen zu können. Vielleicht kann sie ihre hellseherischen Fähigkeiten nach unten ausweiten und künftig auch bei vorgeburtlichen Untersuchungen einsetzen.
Reden wir doch Klartext: Natürlich ist die Pflege eines behindertes Kindes auch eine Belastung und mein uneingeschränkter Respekt gilt allen, die sich dieser Aufgabe stellen. Selbstredend kann man an einer solchen Aufgabe wachsen. Selbstredend eröffnet einem ein behindertes Kind Einsichten und Erlebnisse, die man mit einem gesunden Kind nie gehabt hätte. Aber dasselbe gilt für Fallschirmspringen und exzessiven Drogenkonsum, ohne dass diese Tätigkeiten deshalb zur gesetzlichen Pflicht erklärt würden. Wenn ich die Wahl habe, wenn ich sämtliche Faktoren abwägen kann, entscheide ich selbst darüber, ob ich meine Komfortzone verlassen und «wachsen» will. Niemand kann mich gegen meinen Willen zu Erkenntnissen zwingen - dank der Tatsache, dass ich ein Mann bin.
Berufsempörer von konservativer Seite scheuten sich natürlich nicht, die Nazikeule zu schwingen. So meinte Peter Föhn (SVP/SZ) in der Debatte: «Es darf nie zu einer Selektion von menschlichem Leben kommen.» Schön gesagt, aber leider an der Realität vorbei, denn diese Selektion geschieht bereits. Einerseits durch die Natur selbst - etwa die Hälfte aller Schwangerschaften enden als Fehlgeburt - andererseits herrscht ja auch in konservativen Kreisen Einigkeit darüber, dass diese Selektion im Fall von schweren Erbkrankheiten durchaus angebracht ist. Warum wird hier «menschliches Leben» (in Klammern deshalb, weil in der 12. Schwangerschaftswoche wohl vielmehr von potentiellem menschlichen Leben gesprochen werden müsste) unterschiedlich gewertet? Warum ist diesen Moralisten ein Embryo mit Trisonomie 21 (chromosomale Anomalie) mehr wert als beispielsweise einer mit Muskeldystrophie, einer monogenen Erbkrankheit? Warum ist das eine den Eltern zumutbar und wird von der Gesellschaft eingefordert, während man sich erblödet, beim anderen festzustellen, hier sei nun die Grenze des Zumutbaren überschritten? Und wie passt es bei all der plakativen Sorge zusammen, dass dieselbe Gesellschaft bei der finanziellen und sozialen Unterstützung von behinderten Mitmenschen mehr und mehr Zurückhaltung übt, insbesondere dann, wenn diese Gesellschaft durch Föhns Partei repräsentiert wird? Warum soll es akzeptabel sein, dass Embryonen wegen Überforderung abgetrieben werden, nicht aber dann, wenn der Grund für diese Überforderung eine chromosomale Anomalie des Embryos ist? Und wo wir schon dabei sind: Wer entscheidet überhaupt darüber, ob eine Erbkrankheit «schwer» ist oder nicht?
Doch auch auf der linken Seite sieht man die Apokalypse der Zuchtwahl am Horizont heraufdämmern, etwa wenn Gesundheitsminister Berset die Kristallkugel bemüht und meint, genetische Untersuchungen führten direkt Richtung Eugenik. Umso zynischer wirkt dann der faule Kompromissvorschlag des Ständerats, die Anzahl Embryonen, die in einem Behandlungszyklus hergestellt werden dürfen, von drei auf fünf zu erhöhen, wenn die Embryonen nicht untersucht werden (wenn eine Untersuchung stattfindet, sind zwölf erlaubt - nein, auch ich kann dieser Logik nicht folgen). Aber das ist noch einer der strittigen Punkte; Nationalrat und die vorberatende Kommission sahen hier von einer Beschränkung ab. Klar scheint, dass das Parlament das Leid der Frauen billigend in Kauf nimmt, welche aufgrund dieser unsinnigen Beschränkung mehrere Behandlungszyklen über sich ergehen lassen müssen. Offenbar ist es Frauen eher zumutbar, Leid zu ertragen, als es einem empfindungslosen Wesen zuzumuten ist (ein aus sechs Zellen bestehender Embryo besitzt nicht einmal ansatzweise die neurologischen Voraussetzungen, um überhaupt etwas empfinden zu können). Aber dass in diesem Gremium gerne Embryonen über tatsächliche Menschen gestellt werden, ist nicht neu. Insbesondere dann, wenn es sich bei diesen Menschen um Frauen handelt.
Es kann nicht sein, dass die Gesellschaft darüber entscheidet, ob eine Frau ein behindertes Kind zur Welt bringen muss. Schliesslich übernimmt diese Gesellschaft auch nicht die Verantwortung für das Kind, von den emotionalen, sozialen und finanziellen Konsequenzen gar nicht erst zu reden. Diese Frau trägt die Verantwortung, vielleicht bis ans Ende ihres Lebens, für ein von ihr abhängiges Wesen sorgen zu müssen. Und bei aller Hochachtung für Frauen, die sich für diesen Weg entscheiden: Auch sie haben kein Recht darauf, anderen Frauen diese Entscheidung aufzudrücken.
Hoffen wir, dass diese Erkenntnis auch bei den Stimmbürgerinnen und -bürgern ankommt, die dereinst über die revidierte Verfassungsbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin entscheiden werden. Bedenkt man, dass das Parlament momentan noch mit moralischen Kuhhändeln («ich gehe runter auf fünf Embryonen, wenn du mir dafür die Chromosomentests gibst») beschäftigt ist, könnte das allerdings noch eine Weile dauern.
(Claude Fankhauser/news.ch)
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