Letzte Tinte verschwendet

publiziert: Freitag, 13. Apr 2012 / 13:20 Uhr / aktualisiert: Freitag, 13. Apr 2012 / 15:32 Uhr
Günter Grass: Tinte verschwendet
Günter Grass: Tinte verschwendet

Ein Gedicht, dass nur als solches bezeichnet wurde, weil es von einem Nobelpreisträger stammt, eine öffentliche Diskussion voller Hysterie und dann auch noch ein Einreiseverbot für den Dichter in Israel. Die Reaktionen und die Debatte zeigt weniger was mit dem Gedicht als der ganzen Debatte falsch ist.

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Was gesagt werden muss
Grass' Gedicht im Wortlaut.
sueddeutsche.de

«Was gesagt werden muss» war nicht die hellste Stunde Grassscher Lyrik, auch wenn er es mit der «letzten Tinte» geschrieben habe. Sachlich ziemlich am Thema vorbei, ungenau formuliert mit eingebauten Blitzableitern, gedacht um Kritikern gleich vorzuwerfen, dass sie ihm den Antisemitismus vorwerfen würden. Dieses verquaste, defensiv-offensive Machwerk lieferte denn auch ausreichend Kristallisationskeime für ein Donnerwetter von berechtigter und weniger fundierter Kritik.

Was er hingegen nicht schaffte, war der ganzen Nahostdebatte eine neue Perspektive zu verleihen, einen Blickpunkt, von dem sich neue Einblicke erschliessen liessen ... mithin die eigentliche Aufgabe eines Dichters. Doch da der Irrsinn des Nahostkonflikts eine Art Überdschungel ist, ein Gewirr von Abhängigkeiten, verschwiegenen Interessen, dreckigen Geheimnissen und Verrat auf allen Seiten ist es eben einfacher, das ganze auf ein paar Klischees, die sich auf zwei A4-Seiten niederschreiben lassen, zu reduzieren. Was wirklich gesagt werden müsste, es würde den Umfang einer «Göttlichen Komödie» erfordern.

Wer redet denn schon darüber, dass Palästinenser die einzigen Flüchtlinge der Welt sind, die ihren Status vererben und so immer mehr werden? Und sie deshalb nie eine Chance hatten, eine neue Heimat zu finden und von den «arabischen Brudernationen» als permanente Geiseln ihrer Interessen instrumentalisiert werden? Wer redet darüber, dass die gut 20'000 Quadratkilometer Fläche auf denen die demokratische Nation Israel existiert, offenbar die einzige Identitäts-Stiftende Ikone der meisten islamischen Politiker sind? Wer redet darüber, dass in Israel selbst heftig und offen über die Politik der eigenen Regierung diskutiert wird?

Immerhin wird unterdessen darüber gesprochen, dass die Ultra-Ortodoxen in Israel sich zur Gefahr für die Demokratie entwickeln und dass die normalen Bürger diese Spinner, die vom Staat Israel aufgrund der Verfassung und parteipolitischer Interessen zwar geschützt, gehätschelt und gefördert werden, den Untergang dieses Landes wünschen, weil sie ein Gottesreich wünschen. Häufig verdrängt wird hingegen, dass dieser Wunsch auf der Agenda der meisten Arabischen Nationen und natürlich des Iran ganz oben steht und die israelische Regierung und Bevölkerung daher berechtigterweise finden, dass ihre Selbstverteidigung durchaus auch mit drastischen Mitteln gesichert werden darf. Vor allem, weil es schon mehrere Versuche gegeben hat, Israel konkret zu vernichten.

Doch das sind alles Details. Das dramatische an der ganzen Sache ist, und man realisiert dies erst, wenn man weiter zurück tritt, dass die Identitäts-Stiftende Funktion von Israel ein echtes Drama - für die selbst erklärten Feinde Israels - ist. Ein Erfolg würde die Arabischen Nationen ihres gemeinsamen Nenners berauben und der (wesentlich wahrscheinlichere) ewige Misserfolg dazu führen, die Frustration noch grösser zu machen, die ohnehin schon herrscht. Auf alle Fälle lähmt diese Fixierung auf Israel sowohl die gesellschaftliche, wirtschaftliche als auch soziale Entwicklung von Ländern, welche diese dringend bräuchten. Am tragischsten ist dies alles wohl im Iran

Und dann sind natürlich auch noch die USA, Europa, China, Indien und Russland in das traurige Spiel verwickelt, haben zum Teil sich widersprechende Interessen und versuchen vor allem, die Balance aufrecht zu erhalten, weil so sehr viele der eingebundenen Nationen neutralisiert werden und besser beeinflusst werden können.

Diese Balance zu erhalten war die Aufgabe vieler der im «arabischen Frühling» (der sich nun in einen islamistischen Sommer zu entwickeln droht) gestürzten oder angegriffenen Regime. Dass die vor Jahrzehnten abgewürgte Entwicklung dieser Staaten nun an einem sehr gefährlichen Punkt weiter geht, war scheinbar nicht auf der Rechnung der Grossmächte.

Schon gar nicht in den Fünfziger Jahren, als die USA ausgerechnet die Muslimbruderschaft im Kampf gegen die Arabien bedrohenden Kommunisten unterstützte ...

Bemerken sie es? Beginnt man an einem kleinen Faden im Nahostproblem zu ziehen sitzt man auf einmal mit einem ganzen unübersichtlichen Knäuel da. Interessen und Gegeninteressen, Abhängigkeiten, ganze Existenzberechtigungen und die Staatsräson so mancher Regime hängen davon ab, dass sich möglichst nichts ändert, auch wenn alle behaupten, dass sie es ändern wollen. Ein Fehlschritt, ein falsch gespielter Bluff, und das ganze kann in die Luft gehen.

Doch dies ist nicht die Schuld Israels und die Gefahr geht auch nicht von dessen Atomwaffen aus, ob sie kontrolliert sind oder nicht. Es ist vielmehr wie eine permanente Familienfeier eines hoch-dysfunktionalen Clans an dem konstant zum Tanz aufgespielt wird. Doch dieser Tanz wird mit gezogenen, geladenen und entsicherten Waffen getanzt und wenn Grass glaubte, mit seinem Gedicht etwas aufschlussreiches (oder gar den Ansatz zu einer Familienaufstellung) zu dieser Party der Irren zu liefern, so liegt er leider daneben. Die Tinte hätte er besser für etwas anderes aufgebraucht.

(Patrik Etschmayer/news.ch)

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letzte Tinte
ob es am Alter liegt? Könnte sein. Ist ja auch kein Gedicht, ist eher ein Leserbrief von Grass, und ungut daneben.
Ihr Beitrag
Da lese ich Ihren Beitrag, mit dem ich übrigens einig gehe, und es stellt sich mir nur ein Frage:

Keine Reaktion. Wo ist eigentlich Kubra? Lange nichts gehört.
So komplex ist es nicht
Grass's Gedicht als Verschwendung "letzter Tinte" zu bezeichnen ist Fehl am Platz.
Ebenso seine Schrift als falsch zu deklassieren mit der Begründung das ganze Nahostthema sei zu komplex und ein Knäuel.

Grass hat Meinungsfreiheit.
Wer sein Gedicht gelesen hat, erkennt darin viele Wahrheiten, die einfach unbequem sind.

Kritik an Israel (bzw. deren Regierung) wird als Antisemitismus gewertet in Israel und Deutschland.
Sorry aber das ist so. Unwiderruflich. Wer dies leugnet leidet an Realitätsverlust.
Dafür gibt es zuviele Beispiele, quasi im Jahrestakt gibt es solche Fälle.

Der ganze "Nahostkonflikt" ist heute viel weniger komplex in vielen Belangen.
Israel ist zum internen Problemfall geworden mit Rechtskonservativer Regierung unter einem nicht gewählten machtgeilen neoliberalen Netanjahu, dem sein Volk sicher ziemlich egal ist, da kann er noch so viel heucheln.
Und die Demokratie wurde in Israel noch nie so effektiv demontiert wie unter Netanjahu.
Mag sein, dass auch er eine Geisel der Ultraorthodoxen Kleinstparteien ist. Aber warum wird keine politische Reform eingeleitet??
Im Gegenteil wird immer mehr Macht diesen Kreisen zugefügt?

Das hat mit Iran nicht mehr viel zu tun. Das ist ein Problem Netanjahu, das dringend gelöst werden muss.
.
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