Ohne Guanxi: Banca Rotta
Ohne Vertrauen bewegt sich wenig in der Welt. Ohne Guanxi bewegt sich nichts in China. Wirtschaftlich, sozial und politisch. Das wusste schon Konfuzius.
Wie immer dem auch sein mag, Vertrauen ist tatsächlich Grundlage aller Geschäfte sowie aller Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Wer wüsste es nicht aus der eigenen Lebenserfahrung, wie wichtig erlebte und erlebbare Gemeinsamkeiten sind: die Herkunft aus dem gleichen Dorf, der gleichen Stadt, dem gleichen Kanton oder Land, die zusammen besuchte Schule, die gleiche Alma Mater, den gleichen Arbeitsplatz oder die Firma, die gemeinsamen Freunde, Bekannten und Freundes Freunde, die Grossfamilien, die nahen und entfernten Verwandten, die gleiche politische Partei, der selbe Sportverein, der gemeinsame Verband. Das alles verbindet. Beim Abschluss von Geschäften, bei der Suche nach Arbeit, im politischen Alltag oder parlamentarischen Nahkampf etwa ist der Rückgriff auf solche Netzwerke des Vertrauens hilfreich und gut. Bei gleicher Qualifikation etwa hat ein Bekannter von Bekannten, ein Freund eines Freundes oder ein Mitglied des gemeinsamen Hula-Hop-Vereins einen Vorteil gegenüber den Mitbewerbern. Die Grenzen freilich zur Vetternwirtschaft, wenn nicht gar zu Korruption und Bestechlichkeit, sind bewusst oder unbewusst schnell überschritten.
Auf Vertrauen und Verbundenheit basiert auch die viel zitierten chinesischen Guanxi-Verbindungen. Ohne Guanxi lässt sich in China weder im Geschäft noch in der Politik etwas erreichen. Guanxi hat viele Ähnlichkeiten mit den im Westen auf Vertrauen basierenden Beziehungen. Der Begriff indes ist vielschichtiger, komplexer, und die Nähe zu Korruption und Nepotismus mithin viel enger als in einem westlich geprägten kulturellen Umfeld. Im Netzwerk persönlicher Beziehungen Guanxi spielt auch die Vorstellung des «Gesicht gebens» und des «Gesichts wahrens» eine entscheidende Rolle. Zwar ist «Gesicht» auch im Westen nicht unbekannt. Doch im Reich der Mitte ist es ein derart zentraler Begriff, den man politisch, sozial und wirtschaftlich ungestraft lieber nicht missachten sollte.
Das Guanxi-Spiel zu beherrschen, ist eine hohe Kunst. Die 75 Millionen Chinesen im Ausland - die meisten davon seit Jahrhunderten in Südostasien - sind darin Meister. Das berühmte Bambus-Netzwerk von höchster wirtschaftlicher Effizienz ist Beweis dafür. Auch das Netzwerk der 85 Millionen Mitglieder zählenden Kommunistischen Partei spielt eine tragende Rolle auf dem Polit- und Wirtschaftsparkett. Seit gut zehn Jahren dürfen selbst kapitalistische Privatunernehmer sich als KP-Mitglieder bewerben. Ein innovativer Jung-Unternehmer aus Chengdu, der es geschafft hat, verglich im privaten Small-talk nach dem zweiten Cocktail die KP mit einem roten Rotary Club.
In einem von Guanxi geprägten Umfeld steht das persönliche Vertrauen über allem. Zwar gibt es wie anderswo auch Verträge, Reglemente und schriftliche Absprachen. Doch diese gelten nur als Richtschnur, wie viele schlecht vorbereitete westliche Geschäftsleute - und Politiker - in China erstaunt und leicht düpiert schon erfahren mussten. Was in China am Ende zählt, sind die persönlichen Kontakte. Sie müssen ständig gepflegt, unterhalten, ausgebaut werden und beruhen auf Gegenseitigkeit. Das braucht Zeit, Ausdauer und viel Aufwand. Menschlich kann das sehr wohl auch ein Gewinn sein.
Die Nähe zu Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft jedoch ist unter solchen Umständen evident, und die Grenze zu korruptem Verhalten sind fliessend und nur schwer eindeutig zu ziehen. Viele der Abertausende von Verfahren gegen «Kleine Fliegen» - also normale Beamte, die täglich mit den «Massen» zu tun haben - zeugen davon. Doch auch die «Grossen Tiger» verfangen sich neuerdings im Zuge der rigiden Anti-Korruptionskampagne von Partei-Supremo Xi Jinping immer mehr im Fangnetz der Bestechlichkeit und Schmiergelder. Das ehemalige Politbüro-Mitglied Bo Xilai und einer seiner steinreichen Geschäftsfreunde aus der Zeit als Bürgermeister und Parteichef der Hafenstadt Dalian ist ein berühmtes Beispiel. Eben erst wurde zudem der zweite ganz grosse «Tiger», General Xu Caihou aus der Partei ausgeschlossen und der Korruption angeklagt. Er sass zusammen mit Bo Xilai bis 2012 im 21-köpfigen Politbüro und war sogar Stellvertretender Vorsitzender der mächtigen Militärkommission. Ob der Anti-Korruptionskampf noch eine Stufe höher ein Opfer kosten wird, ist derzeit ungewiss. Nicht wenige der bislang zu Fall gekommenen grossen «Tiger» nämlich kommen aus dem Umfeld der Erdöl- und Energie-Industrie und der Staatssicherheit. Viele fragen sich deshalb, ob der bislang mächtigste «Tiger» Zhou Yongkang bald fallen wird. Er war im Jahrzehnt von 2002 bis 2012 als Mitglied zunächst des Politbüros und dann des allmächtigen, siebenköpfigen Politbüro-Ausschusses zuständig für die Staatssicherheit und dank seiner früheren Tätigkeit Pate der Erdölindustrie.
Guanxi beruht auf Loyalität und Vertrauen, einer vom grossen chinesischen Philosophen Konfuzius vor zweieinhalbtausend Jahren beschriebenen Tugend. Das Beziehungsgeflecht ist streng hierarchisch geordnet: Loyalität von Untertan zum Fürsten, vom Sohn zum Vater, von Freund zu Freund (und Frau zu Mann...). Hängt man deshalb im modernen China in der falschen Seilschaft, kann das geschäftlich, politisch und sozial sehr ungesund werden. Das konfuzianische Modell teilt die Gemeinschaft in Edle und Gemeine ein, also in Beamte und Volk. Das ist die Theorie. In der Praxis des real existierenden chinesischen Kommunismus freilich ist der Kreislauf der Bestechlichkeit in allen Beziehungen im Kleinen wie im Grossen fast so etwas wie ein Perpetuum Mobile geworden. Mit gefährlichen Folgen für Staat, Gesellschaft und mithin die allmächtige Partei. Die Kluft nämlich zwischen den Beamten und dem Volk wird immer grösser. Der Unmut der Massen ist mit Händen zu greifen.
Die derzeitige Anti-Korruptionskampagne wird moralisch begründet. Der Beamte, also auch der kommunistische, ist im Prinzip gut. Die Korrupten sind - im offiziellen Sprachgebrauch - die Ausnahme und müssen verfolgt und hart bestraft werden. Der Anti-Korruptions-Kampf hat aber durchaus eine politische Konnotation mit - wie die zitierten Beispiele zeigen - unmittelbaren Folgen. Parteichef Xi scheint sich auf das alte Diktum von Genosse Lenin zurückbesonnen zu haben: Vertrauen ist zwar (immer noch) gut, Kontrolle aber besser.
Im kapitalistischen Westen ist es ja auch nicht mehr wie früher. Viehhändler schlossen einen Handel mit einem kräftigen Handschlag ab, ganz auf lang gepflegtes Vertrauen bauend. Dasselbe taten, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die Händler während Jahrhunderten im Zahlungsverkehr auf der Tausende von Kilometern langen Land- und See-Seidenstrasse zwischen Asien und Europa. Ohne Vertrauen kein Handel. Auch für die Vorläufer der modernen Banquiers im Italien des 12. und 13. Jahrhunderts, die buchstäblich auf einer Bank sitzend auf einem Platz öffentlich ihre Geldgeschäfte tätigten, war Vertrauen das wichtigste Kapital. War das Vertrauen einmal dahin, ging die damals meist hölzerne Bank kaputt - Banca Rotta also. Doch seit der Industriellen Revolution stützt sich das sich weiterentwickelnde kapitalistische System immer mehr auf das Recht, the Rule of Law. In einem globalisierten Umfeld mit hochkomplexen Strukturen ist, mutatis mutandis, Vertrauen zwar immer noch gut und notwendig, aber nicht mehr hinreichend. Deshalb Gesetze, Reglemente, Verträge, verbriefte Garantien aller Art und Gerichte. Der Rechtsstaat also, in dem niemand über dem Gesetz steht.
Mit vielen während der letzten 35 Reformjahren erlassenen Gesetzen nähert sich China zwar dem Rechtsstaat. Doch auch im Guanxi-System der chinesischen Moderne spielen Personen noch immer die tragende, entscheidende Rolle. Sie stehen letztlich über dem Gesetz. Das sollten - auf eigene Gefahr hin - westliche Geschäftsleute und Politiker, aber auch chinesische Anti-Korruptions-Kämpfer nie vergessen.
(Peter Achten/news.ch)
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