Ordnung, Chaos, Liebe und Frieden
Die Hongkonger Studentenproteste liefern seit einer Woche Schlagzeilen. In westlichen Medien wird Hong Kong 2014 mit Tiananmen 1989 verglichen. Zu Unrecht.
Kein Wunder, denn die angereisten Fallschirm-Journalisten führten sich auf wie die bei anderer Gelegenheit medien-ethisch verurteilten «embedded Journalists» amerikanischer Prägung. Die China-Redaktorin des britischen Qualitätssenders BBC, ein Leuchtturm des westlichen Qualitäts-Journalismus, bloggte gar pathetisch, sie verfolge «Geschichte im Entstehen». Als es am Freitag zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten kam, raunten westliche Medien sofort, das sei von China organisiert. Es waren neben einer Triade-Gang zum grössten Teil aufgebrachte kleine Gewerbetreibende, die um ihre Geschäfte bangten. Der Verdacht, Peking habe das Gerangel inszeniert, ist ungefähr so dumm, wie der Vorwurf Chinas, die Hongkonger Demonstrationen seien vom Ausland gesteuert. Im Zeitalter des Copy-Paste-Journalismus jedoch verbreiten sich all die ungeprüften on-dits in Windeseile auf allen digitalen und analogen Kanälen.
Insgesamt war die Hongkong-Berichterstattung fürwahr kein Glanzpunkt des viel zitierten westlichen Qualitäts-Journalismus. Ein bekanntes Schweizer Online-Newsportal stellte gar die Frage «Gibt es ein zweites Tiananmen-Massaker?». Wer so titelt, hat keine Ahnung von Geschichte im Allgemeinen und von Tiananmen 89 und Hongkong im Besonderen. Selbstverständlich aber lassen sich so die Klick-Zahlen erhöhen. Und darauf kommt es schliesslich auch an. Beim Fernsehen ist es nicht anders. In Live-Schaltungen auf sämtlichen Kanälen erklären besorgt «vor Ort» Journalistinnen und Journalisten die Lage. Einseitig, aber mittendrin. Dass es auch anders geht und was guter Journalismus ist, zeigen wenige Ausnahmen, so zum Beispiel die nuancierte, unaufgeregte Berichterstattung des NZZ-Chinakorrespondenten oder der FAZ-Korrespondentin, beide ebenfalls «vor Ort».
Hier einige Punkte, die es bei der Verfolgung der Hongkonger Demokratiebewegung zu beachten gilt. Ein - um es Neudeutsch zu formulieren - Reality-check.
Worum geht es?
Im Mittelpunkt des Konflikts zwischen der Demokratiebewegung und der von Peking abgesegneten Regierung der Sonderverwaltungs-Region Hongkong steht die auch von Peking für 2017 versprochene allgemeine Volkswahl des Regierungschefs. Bisher wurde er durch ein Wahlkomitee - bestehend zunächst aus 400, bei der letzten Wahl 2012 aus 1200 Mitgliedern - bestimmt. Das Wahlkomitee setzte sich zusammen aus Vertretern von Gewerben, Wirtschaft, Handel und Finanzen. Unbestritten ist bei der nächsten Wahl 2017, dass das Volk das Sagen hat. Freilich gehen die Meinung der Demokraten im Lokal-Parlament und der Protestbewegung auf der einen Seite und Peking sowie die in Hongkong bestimmenden Wirtschaftskreise auf der andern Seite in einer zentralen Frage weit auseinander. Wer darf Kandidat sein? Wer bestimmt die Kandidaten? Die demokratischen Kräfte im Parlament (Legco) und die studentischen Demonstranten wollen Kandidaten auf demokratische Art auswählen. Peking beharrt darauf, dass nur «patriotische», von einem Komitee ausgewählte Kandidaten sich zur Wahl stellen dürfen.
Wer protestiert?
Es sind vor allem junge Menschen, Studenten und Mittelschüler zumal. Organisiert sind die Demonstranten in der «Hongkong Federation of Students», der zurückhaltendere und wohl auch pragmatischere Teil der Bewegung. Der kompromisslosere, auf Maximalforderungen beharrende Teil ist in der Mittelschul-Organisation «Scholarism» eingebunden. «Scholarism» hat sich bereits erfolgreich gewehrt, als Peking vor zwei Jahren in den Mittelschulen das Pflichtfach Patriotismus einführen wollte. Das Aushängeschild von «Scholarism» ist der 17 Jahre alte Joshua Wong, der Darling der westlichen Fernsehstationen. Schliesslich agiert auch mit die über Academia herausreichende Bewegung «Occupy Central with Love and Peace». Einer der Gründer der Occupy Central Bewegung, Benny Tai Ziu-ting, spach von einer «neuen Ära des Widerstandes». Eine einheitliche Führung des Protests gibt es bislang nicht. Die Forderungen aller jedoch sind gleich: Rücktritt des Hongkonger Regierungschefs Leung Chun-ying, allgemeine Wahlen 2017 mit der demokratischen Auswahl von Kandidaten.
Der Standpunkt Pekings
Bei der Auswahl der Kandidaten für den Regierungschef 2017 bleibt Peking bei der seit Hong Kongs Rückkehr zum Mutterland 1997 angewandten Praxis. Die Kandidaten «müssen patriotisch sein und das Land lieben». Am 30. August hat der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses in Peking entschieden, dass alle Kandidaten von «mehr als der Hälfte der Mitglieder» eines «umfassend repräsentativen Nominierungskomitees» unterstützt werden müssten. Zwei, maximal drei Kandidaten werden dann dem Volk zur Wahl präsentiert.
Schon anfangs Jahr hat China zum ersten mal seit 1997 ein «White Paper» veröffentlicht, um seine Position klarzumachen. «Eine umfassende Jurisdiktion» Chinas über Hongkong wird unmissverständlich in Erinnerung gerufen und kritisiert, dass «einige Leute» in Hongkong in Bezug auf das Verständnis des Prinzips «Ein Land - Zwei Systeme» total verwirrt seien. Die in Peking erscheinende Tageszeitung «Global Times» (ein Ableger des zentralen Parteiblattes «Renmin Ribao» (Volkszeitung)) schrieb, die Hongkonger Demokraten hätten «unrealistische Erwartungen», die es «auszulöschen» gelte, «mit Zwangsmassnahmen» wenn nötig.
Die ganze Protest-Woche über gaben Chinas gelenkte Staats- und Parteimedien den immer gleichen Tarif durch. Die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) setzte gleich am Anfang den Ton und bezeichnete die Hongkonger Demonstrationen als «illegal». Mitte der Woche schrieb das Sprachrohr der allmächtigen Kommunistischen Partei «Renmin Ribao» (Volkszeitung): «Hong Kongs Prosperität ist in Gefahr». Occupy Central habe die Basis der Hongkonger Gesellschaft ruiniert. Recht und Ordnung seien der fundamentale Pfeiler und die Grundwerte Hong Kongs. «Aber viele der Occupy-Demonstranten», folgerte der Volkszeitungs-Kommentator, «betrachten egoistisch das Recht als grundlos». Die Pekinger Tageszeitung wiederum schrieb: «Alle Sektoren der Gesellschaft in Hong Kong fordern, dass Recht und Ordnung wieder hergestellt wird». Aussenminister Wang Yi, gerade auf Besuch in den USA, bezeichnete die Demonstrationen als «illegal» und verbat sich von Amerika die «Einmischung in innere Angelegenheiten».
In der zweiten Wochenhälfte warnte «Renmin Ribao» vor «unvorstellbaren Konsequenzen», falls weiter demonstriert werde, sprach aber gleichzeitig Regierungschef Leung das Vertrauen aus: «Hong Kongs Regierung hat die Fähigkeit, die aktuelle Situation streng nach Gesetz zu bewältigen». Das Staatsfernsehen CCTV meinte, die Hongkonger Polizei sollte unterstützt werden in ihrem Versuch, «die soziale Ordnung so schnell als möglich wiederherzustellen».
Insgesamt vermitteln die zensurierten chinesischen Medien den Eindruck, dass das «Chaos» in Hong Kong nur bei «wenigen Leuten liegt, die das Recht missachten». Trotz Zensur freilich sind die meisten Chinesen, die ich kenne, ziemlich gut über die Hongkonger Demonstrationen informiert, ohne deshalb auch schon deren Forderungen zu teilen. Im Gegenteil. Ein guter Bekannter mit amerikanischem Universitätsabschluss fragte konsterniert, warum denn die Hongkonger Jugend überhaupt demonstriere. Denen gehe es wirtschaftlich sehr viel besser als den Bewohnern auf dem Festland, überdies hätten sie alle Freiheiten. Wenn von den fast fünf Millionen Stimmberechtigten in Hongkong bei der Wahl 2017, meinte ein selbständiger Kleinunternehmer, auch nur zwei Millionen leer einlegen, beeindruckte dies die chinesische Führung sehr viel mehr, als die ganze jetzige Demonstration. Diese Meinungen sind wohl typisch für den in den letzten fünfzehn Jahren in China entstandenen Mittelstand.
Parallelen zu Tiananmen 89?
In den westlichen Medien wurden immer wieder Parallelen zum Zwischenfall auf dem Platz vor dem Himmlischen Frieden Tiananmen vor 25 Jahren gezogen. Der Vergleich ist falsch, irreführend, ahistorisch und marktschreierisch.
China 1989: Die Volksrepublik war kein Rechtsstaat. Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit existierte zwar in der Verfassung, nicht aber in der Wirklichkeit. China litt damals unter einer überhitzten Wirtschaft und einer Hyperinflation. Das führte dazu, dass sich Arbeiter, Intellektuelle, Parteikader, Journalisten, Regierungsangestellte den Studentendemonstrationen anschlossen. Die Arbeiter und Angestellten spielten damals neben den Studenten eine tragende Rolle, ein Faktum, das in der westlichen Berichterstattung selten erwähnt wird. Die Demonstranten kämpften für mehr Transparenz in der Regierung und gegen die grassierende Korruption. Gescheitert ist die Bewegung schliesslich an Maximalforderungen, wie jener nach dem Rücktritt der Zentralregierung.
Hong Kong 2014: Die Sonderverwaltungs-Region ist ein Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz und einer unabhängigen Korruptionsbehörde. Auch 17 Jahre nach der Rückkehr ins Mutterland gibt es noch Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, wenn auch Journalisten zuweilen die auch im Westen bekannte «Schere im Kopf» aktivieren. Wirtschaftlich ist Hong Kong gut aufgestellt. Allerdings wird, wie anderswo im Westen, der Abstand zwischen den Reichen und dem Rest immer grösser.
Die Hongkonger Protestbewegung hat mit grosser Disziplin und friedfertig, wenn auch unbewilligt, viel für das demokratische Bewusstsein in der ehemaligen britischen Kronkolonie erreicht. Doch Maximalforderungen - Rücktritt von Regierungschef Leung sowie Zugeständnisse Pekings in der Kandidatenfrage - bringen das Erreichte in Gefahr. Die Studenten haben zwar Rückhalt über ihre Universitäten Kreise hinaus, doch der während der Woche von vielen westlichen Medien verbreitete Eindruck, ganz Hongkong stehe hinter Occupy, ist falsch. Für Hong Kongs demonstrierende Jungen jedoch ist es schwierig, die allerwichtigste Demokratie-Lektion bereits gelernt zu haben: einen tragbaren Kompromiss nämlich zu finden zwischen Minderheits- und Mehrheitsmeinung.
Taiwan
Von Taiwan war die ganze Woche medial fast überhaupt nicht die Rede. Zu unrecht, denn Taiwan verfolgt seit Jahren all das, was in Hongkong geschieht, mit Argusaugen. Präsdent Ma Ying-jeou, seit sechs Jahren mit seiner nationalistischen Kuomintang-Partei an der Macht, sagte: «Wir verstehen und unterstützen Hong Kongs Forderung nach freien, allgemeinen Wahlen». Die Medien berichten breit und differenziert. Mas offenes Wort ist ungewöhnlich, war er es doch, der in den letzten Jahren zum Teil gegen grosse Skepsis im Volk die Annäherung an China energisch vorangetrieben hat. Sollte jetzt in Hong Kong etwas total aus dem Ruder laufen, rückte Deng Xiaopings gerade auch für Taiwan geträumte grosse Traum in weite Ferne. Die Rückkehr nämlich der «abtrünnigen Provinz» Taiwan ins Reich der Mitte.
Dass sich auch die ehemalige Kolonialmacht Grossbritannien in die «inneren Angelegenheiten Chinas» mischt und Besorgnis häuchelt, entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie. Die Briten nämlich hatten während ihrer über 150 Jahre als Kolonialmacht nie auch nur den kleinsten Schritt hin zur Demokratie gemacht. Der Gouverneur wurde von London bestimmt. Ohne Mitsprache der Kolonisierten. Punkt. Das zu ändern ist dann erst dem allerletzten Gouverneur Christopher Francis Patten in extremis kurz vor 1997 eingefallen. Ein Danaer-Geschenk als schweres Erbe, das Hong Kong bis heute umtreibt.
(Peter Achten/news.ch)
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