Pirouette, diplomatisch-brilliant
publiziert: Montag, 25. Apr 2011 / 14:29 Uhr / aktualisiert: Montag, 25. Apr 2011 / 15:28 Uhr

Das vergangene Pekinger Wochenende könnte man in der Sprache der Kunst-Szene als «Kultur mehr-dimensional» charakterisieren. Die Elite-Universität Tsinghua feierte ihr 100-jähriges Bestehen, eröffnet wurde das erste Pekinger Filmfestival mit internationaler Prominenz und im Caochangdi-Künstlerviertel Pekings wurde der «Photospring Fesitval 2011» aus der Taufe gehoben. Und mittendrin unser Bundesrat Didier Burkhalter.

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 Sein einwöchiger Arbeitsbesuch in China ist fürwahr kein «Reisli». Die hochkarätige Delegation mit ETH-Präsident Ralph Eichler, EPF-Präsident Patrick Aebischer und Locarno-Filmfestival-Präsident Marco Solari wird mit Umsicht und grossen China-Kenntnissen von Burkhalters compatriote neuchatelois, Ambassadeur Blaise Godet, betreut. Von morgens bis abends ist Burkhalter unterwegs. Er trifft sich natürlich mit den roten Mandarinen, in Peking mit dem Gesundheits-, dem Erziehungs- und dem Wissenschaftsminister, aber auch mit Vertretern Schweizer Multis in Shanghai, die dort mit grossen Investitionen Forschung betreiben und schliesslich im südlichen Shenzhen mit dem CEO einer berühmten chinesischen Hightech-Firma mit unter anderem einem Büro in der Schweiz.

In Peking war Burkhalter prominenter Gast bei der Einweihung der von Mario Botta entworfenen neuen Bibliothek der legendären Elite-Universität Tsinghua. Im Caochangdi-Künstlerviertel beehrte er die «Peking Fine Arts Gallery» mit seiner Anwesenheit und einer Rede vor geladenen chinesischen und Schweizer Gästen und Kunstfreunden. Die Ausstellung, unterstützt von Pro Helvetia und zustande gekommen in Zusammenarbeit mit dem «Musée Elysée de Lausanne», ist Teil des «Photospring Festivals 2011» unter dem Motto «reGeneration2 - Tomorrow's Photographers Today». Nicht weit davon entfernt in der ShangArt Gallery Beijing zeigt der Schweizer Galerist und Pionier der zeitgenössischen chinesischen Kunst, Lorenz Helbling, eine sensationelle Solo-Ausstellung des Photographen Yang Zhenzhong. In einem Yang-Video z.B. rezitieren Siemens-Arbeiter close-up in hektischen zwei bis drei Sekunden Schnitten die berühmte Rede des Reformübervaters Deng Xiaoping auf seiner Südreise 1992, welche die Wirtschafts-Reform nach den Tiananmen-Unruhen 1989 neu entfacht und den heutigen bescheidenen Wohlstand erst möglich gemacht haben.

Vernissagen-Hauptthema von Burkhalter umschifft

Alles also Hochpolitisch. Nur wenige hundert Meter von der ShangArt Gallery entfernt eröffnete die französische Botschafterin im «Three Shadow Photography Art Centre» die Dach-Veranstaltung «Photospring Festival 2011». Entworfen wurde das Zentrum von keinem geringeren als Ai Weiwei. Bei den Laobaixing, der breiten Bevölkerung, mag er zwar weitgehend unbekannt sein. Doch bei den Hunderten von Vernissage-Gästen war Ai Weiwei natürlich ein ganz grosses Thema. Kein Wunder deshalb, dass sich auch Polizisten in Zivil unter den Kunstfreunden tummelten, im Vernissage-Gemenge etwas unbeholfen und mit dem Vernissage-Cocktail Gognac/Tonic in der Hand leicht erkennbar. Sie waren nämlich so gekleidet, wie sich der Geheimdienst wohl dekadente Kunstfreunde vorstellt.

Natürlich wurde auch Bundesrat Burkhalter von Schweizer Radioreportern auf Ai Weiwei direkt angesprochen. In einer brillanten verbal-diplomatischen Pirouette schaffte es unser Kulturminister, den Namen Ai Weiweis auch nicht nur andeutungsweise zu erwähnen. Er sei hier, sagte er, um die chinesische Kultur zu entdecken und zu verstehen. Gleichzeitig versuche die Schweiz, unsere Werte den Chinesen verständlich zu machen. Das alles sei wichtig in einer globalisierten Welt, die dank Reisen immer durchlässiger und freier werde.

Unterdessen ist es drei Wochen her, seit Künstler Ai Weiwei auf dem Pekinger Flughafen kurz vor seiner Ausreise verhaftet worden ist. Seit seiner Festnahme am 3. April fehlt von ihm jede Spur. Noch heute bleibt ungeklärt - auch für seine nächsten Angehörigen - wo genau sich der wortgewaltige, zivilcouragierte Künstler aufhält. «Wirtschaftsverbrechen» werden ihm vorgeworfen, die streng «nach geltendem chinesischen Recht geahndet werden», hiess es von offizieller Seite. Allerdings sieht das geltende chinesische Recht und die chinesische Verfassung keineswegs vor, dass Verhaftete spurlos verschwinden. Ein Sprecher der Pekinger Regierung jedoch gibt sich selbstbewusst: «Die Ermittlungen verlaufen strikte nach den Regeln des Gesetzes».

Ai Weiwei liess sich nie den Mund verbieten

Ai Weiwei, Sohn des berühmten und in ganz China verehrten Dichters Ai Qing, ist ein international bekannter bildender Künstler, Filmemacher, Photograph und Architekt. Er, der mit seinem Vater - der Ende der fünfziger Jahre als Rechtsabweichler verurteilt und «aufs Land herunter» geschickt worden ist - lange Jahre im fernen Xinjiang aufgewachsen ist und dort, wie ein chinesisches Diktum es formuliert, «Bitterkeit gegessen» hat, liess sich nie den Mund verbieten. Nach seiner Rückkehr aus New York - er verbrachte dort entscheidende Jahre - wurde der heute 53 Jahre alte Weiwei in den 90er Jahren zunächst im Ausland mit seinen Werken, Installationen, seinen Photos, seiner Architektur bekannt. Ai Weiwei aber war auch ein Mann, der wegen seiner Erfahrungen in Xinjiang sich stets für die Benachteiligten und mit seinem wachen Gerechtigkeitssinn für die Unterdrückten einsetzte.

In neuerer Zeit nutzte Ai dafür das Internet und war ein fleissiger, viel gelesener Blogger. So verurteilte er zum Beispiel öffentlich die mangelnde Bauqualität der Schulen in der Provinz Sichuan, die 2008 beim Erdbeben zum Tod von Tausenden von Kindern gefuehrt hat. Ai Weiwei konzipierte zusammen mit den Basler Architekten Herzog & Demeuron das «Vogelnest»-Olympiastadion, bezeichnete dennoch aber kurz vor den Spielen Olympia 2008 als Propaganda-Show der Partei und als «Maskerade»; er beklagte auch öffentlich die zwölf Wanderarbeiter, die beim Bau des Vogelnests ums Leben kamen, während seine Schweizer Freunde vornehm schwiegen.

Kurz, Ai Weiwei meldete sich unbequem zu Wort, öfter als es den Behörden lieb war. Er wurde nicht nur gewarnt sondern vor zwei Jahren von Unbekannten derart verprügelt, dass er wenige Tage später während einer Kunstausstellung in München zusammenbrach und ins Spital transportiert werden musste. Dort wurden ihm Blutgerinsel aus dem Hirn operiert. Auch sein neu erstelltes, mit behördlichem Segen gebautes Atelier in Shanghai wurde dem Erdboden gleichgemacht. Dem von ihm organisierten Abriss-Fest in Shanghai konnte er nicht beiwohnen, weil Polizisten ihn in Peking unter Hausarrest festsetzen liessen.

Repression begann schon lange vor der «Jasmin»-Revolution

In den letzten Monaten wurden Dutzende von Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen und Anwälten entweder verhaftet oder unter Hausarrest gestellt. In ausländischen Medien wird das mit den Ereignissen im Nahen Osten in direkten Zusammenhang gebracht. Das allerdings ist - trotz eines Internetaufrufs zu «friedlichen Jasmin-Spaziergängen» in den städtischen Zentren - eine optische Täuschung.

Die neuste Repressionswelle hat schon lange vor der Jasmin-Revolution in Tunesien angefangen, nämlich vor ungefähr sechs Monaten. Und sie hat Methode. Getreu der seit dem Parteikongress 2007 geltenden konfuzianischen Parteilinie einer «harmonischen Gesellschaft» hat «soziale Stabilität» oberste Priorität. Die heute regierenden roten Mandarine nämlich fürchten wie einst die Kaiser Luan, d.h. Chaos; nicht selten verloren durch Chaos die Kaiser das «Mandat des Himmels», also die Macht. Auch der grosse Revolutionär und Übervater der 1978 initiierten Wirtschaftsreform, Deng Xiaoping, liess 1989 bei den Demonstrationen auf dem Platz vor dem Himmlischen Frieden Tiananmen in Peking die Armee auffahren und schiessen. Chaos, so der Chefreformer, bringe die Wirtschaftsentwicklung in tödliche Gefahr, und deshalb sei soziale Stabilität das übergeordnete, allerwichtigste Ziel.

Wenngleich es in China eine kleine Gruppe von aufbegehrenden Intellektuellen und Künstlern gibt, ist die Situation nicht vergleichbar mit der Dissidenten-Szene der ehemaligen Sowjetunion, also den Sacharows, Solschenyzins und vielen andern. Der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der für elf Jahre im Gefängnis sitzt, ist beim Laobaixing, dem Durchschnitts-Chinesen völlig unbekannt. Vermutlich setzt die vor allem im reichen Küstengürtel und den Grossstädten im Innern ansässige neue Mittelklasse - rund 200 bis 300 Millionen Menschen - die gleichen Prioritäten wie die Partei, soziale Stabilität nämlich. Durchgesetzt wird dieses Prinzip seit langem mit Zuckerbrot und Peitsche. Das Zuckerbrot besteht in kontinuierlich mehr Wohlstand, die Peitsche in der Unterdrückung auch des allerkleinsten Widerstands. Nichts anbrennen lassen, im Keim ersticken - das ist die Methode der Staatssicherheit. Davon betroffen sind nicht nur Ai Weiwei, Künstler und Intellektuelle, sondern auch demonstrierende Bauern, die von lokalen Kadern übers Ohr gehauen werden, aufmüpfige Städter, die für das Niederreissen ihrer alten Wohnblöcke zu wenig Kompensation erhielten oder «freche» Wanderarbeiter, die ultimativ ihre ausstehenden Löhne fordern.

Sein Schicksal dürfte besiegelt sein

Beim Vorgehen gegen Ai Weiwei handelt die Partei nach dem chinesischen Sprichwort «das Huhn töten, um die Affen zu erschrecken». Ai nämlich ist in Chinas Künstlerkreisen - wenn auch nicht in der breiten Bevölkerung - wohlbekannt, aber auch nicht unumstritten. Die Verhaftung ist mithin eine Warnung. Um ganz sicher zu gehen, wird Internet-Aktivist Ai Weiwei nun auch in Bloggs und in den Medien fertig gemacht. Auf nationalistischen Webforen sind etwa folgende Ausdruecke und Saetze zu lesen: «Verräter des Mutterlandes» - «Fünf-Stern-Lakai des Westens» - «Ai Weiwei ist ein fetter, vulgärer Mann, der sich gerne nackt auszieht und seinen Schwanz zeigt» - «Ai Weiwei ist der Abschaum der Menschheit» - «Ai Weiwei hasst unser Land» - «Pornographischer Künstler». Hasserfüllte Ausdrücke und Formulierungen, die an längst vergangene Zeiten erinnern, z.B. an die Anti-Rechts-Kampagne 1957, als Ai Weiweis Vater Ai Qing als «Rechtsabweichler» verurteilt und in die Verbannung geschickt worden ist.

Es gibt zwar auch Verteidiger Ais, deren Äusserungen aber verschwinden nullkommaplötzlich von den Internet-Foren. Auch Zeitungen halten sich nicht zurück. «Hinreichende Belege für Steuerhinterziehung» ist etwa zu lesen, eine Anschuldigung, die bei der wachsenden Mittelklasse gewiss gut ankommt. In der vom Sprachrohr der Partei, «Renmin Ribao», herausgegebenen englischsprachigen Zeitung «Global Times» heisst es, Ai Weiwei sei «mit antichinesischen Kräften im Ausland verbündet, um die Volksrepublick China ins Chaos zu stürzen».

Ai Weiweis Schicksal ist - nach allen Erfahrungen - besiegelt. Er wird für Jahre im Gefängnis verschwinden. Oder täusche ich mich? Wird er doch noch, wie offiziell versprochen, «nach geltendem chinesischen Recht» behandelt? Wohl nicht. Die Sprecherin des Aussenministeriums, Jiang Yu, machte klar, dass das Gesetz für «Störenfriede nicht als Schutzschild» dienen könne, im Gegenteil: «Kein Gesetz kann sie beschützen». .

(Peter Achten/news.ch)

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