An den Weltmeisterschaften 1950 in Basel hatten Sepp Stalder und
Walter Lehmann gemeinsam die Bronzemedaille errungen. Seither stand
in der Königsdisziplin des Turnsports nie mehr ein Schweizer im
Endkampf. Der 21-jährige Berner hätte für den Gewinn einer Medaille
allerdings eine Note von über 9,70 turnen müssen. Wegen des Sturzes
beim sogenannten «Winkler», einem Salto vorwärts mit ganzer
Drehung, erhielt er lediglich eine 8,812. Da dem Finnen Jari
Monkkonen und dem Weissrussen Iwan Iwankow, dem zweifachen
Mehrkampf-Weltmeister und Gesamtzweiten von Gent, das gleiche
Missgeschick unterlief, wurde der 21-jährige Berner aus
Grosshöchstetten gleichwohl noch als Sechster klassiert.
Schärer: «Im Übereifer Flug falsch vorbereitet»
Christoph Schärer war erst an den Wettkampfplatz gekommen, als
drei der acht Finalisten ihr Programm bereits absolviert hatten.
Das ist neuerdings möglich, da vor einer Übung nicht mehr
eingeturnt wird. Aus den Augenwinkeln hatte er knapp mitbekommen,
dass enorm hohe Noten erzielt wurde: «Aber irritiert hat mich das
nicht. Mein Ziel war einfach, die Übung sauber durchzuturnen, ohne
an eine Medaille zu denken».
Dann zollte Schärer bei seiner ersten WM-Teilnahme doch der
mangelnden Erfahrung etwas Tribut: «Im Übereifer habe ich die
Flugvorbereitung zu früh eingeleitet -- und schon wars passiert.
Schon in der Luft merkte ich, dass ich die Stange wahrscheinlich
nicht mehr erreichen würde.» Besonders ärgerlich war dies, weil ihm
während der ganzen Zeit in Gent in rund 20 Versuchen der Flugteil
immer gelungen war. «Leider habe ich», so der jünste Schweizer WM-
Turner, «im falschen Moment das falsche getan». Aber sonst, fügte
er an, hätte er an dieser WM das meiste richtig gemacht. Eine Final-
Qualifikation im Mehrkampf (als 2. Ersatzmann), ein 11. Rang mit
der Mannschaft und eine Finalteilnahme am Reck -- das war mehr als
er sich noch vor kurzem erhoffen durfte. «Hätte mir vor wenigen
Monaten einer gesagt, dass in an der Universiade und an der WM im
Final stehe, hätte ich ihn ausgelacht», meinte Schärer.
Als Sieger ging am Reck einer hervor, der wie Schärer die erste
WM bestritt und noch zwei Jahre jünger ist -- Vlasios Maras aus
Griechenland, wie Schärer ein Aussenseiter. Der Turnsport wird
immer internationaler. Renske Endel errang erstmals seit 1903 eine
Medaille für Holland, Daniele Hypolito überhaupt die erste für
Brasilien, und im Ringfinal standen ein Zypriote und ein Ägypter.
Dafür blieben die Russen bei den Männern zum ersten Mal ohne eine
einzige Auszeichnung.
Erste WM-Medaille für eine Mutter
Die grossen Stars dieser WM hiessen Swetlana Chorkina (Russ) und
Andrea Raducan (Rum) mit je Titeln sowie Jordan Jovtschev (Bul) und
Marian Dragulescu (Rum) mit je zwei Goldmedaillen. Die
aussergewöhnlichste Medaillengewinnerin war aber Oksana
Schusowitina aus Usbekistan, die als erste Mutter in der Geschichte
des Turnsports eine Auszeichnung errang. Die 26-Jährige verpasste
als Zweite im Pferdsprung den Titel nur knapp. Turn-Königin
Chorkina war um 63 Hundertstel besser.
Oksana Schusowitina stand bereits bei den Weltmeisterschaften
1991 in Indianapolis in der sowjetischen und bei den Olympischen
Spielen 1992 in Barcelona in der siegreichen GUS-Mannschaft.
Seither turnt sie für Usbekistan, den Nachbarstaat Afghanistans.
1997 unterbrach Schusowitina, die oft wochenlang in der Schweiz
trainierte, ihre Karriere für die Baby-Pause.
18 Titel und 36 Medaillen für Chorkina
Sportlich im Mittelpunkt stand einmal mehr Swetlana Chorkina.
Die Russin, auch sie bald 23-jährig, errang an grossen Wettkämpfen
die Medaillen Nr. 32 bis 36 sowie Titel Nr. 16 bis 18, darunter
erstmals jenen im Pferd- oder neuerdings Tisch-Sprung. Wegen des
Olympia-Skandals an diesem Gerät, das ihr den Olympiasieg gekostet
hatte, war sie zurückgetreten und erst im Verlaufe dieses Jahres
auf ihren Entscheid zurückgekommen. Am Stufenbarren ist Chorkina
dagegen seit 1994 ungeschlagen.
(kil/sda)