Tibet - Ruf nach Veränderung
«Erstmals seit 17 Jahren hat China das Verbot von Dalai-Lama-Bildern in tibetischen Gebieten versuchsweise gelockert» - so oder ähnlich ging die Agentur-Meldung um die Welt.
Das chinesische Dementi fand erwartungsgemäss im Westen kaum mehr Beachtung, allenfalls im «Kleingedruckten» unter der Rubrik Vermischtes. Tibet ist denn auch ein delikates Thema. Die Wahrnehmung im Westen wird selten durch Fakten, meist aber durch die Brille der Exil-Tibeter betrachtet. Danach werden Tibeter von den bösen Chinesen gnadenlos unterdrückt, ja die roten Mandarine begehen nach Ansicht «seiner Heiligkeit», dem Dalai Lama, gar «kulturellen Völkermord». In der Realität freilich gibt es nicht nur das chinesische Weiss oder das westliche Schwarz, vielmehr geben Grautöne den Ton an. Anders ausgedrückt und als Messlatte für Tibet-Nachrichten zu empfehlen: nicht alles, was die chinesische Regierung sagt ist falsch, und nicht alles, was die Exil-Tibeter oder der Dalai Lama sagen ist richtig. Dasselbe gilt auch umgekehrt.
Auch im aktuellen Fall mit den Dalai-Lama-Bildern lässt sich das unschwer beobachten. Die neue Politik im Kloster Gaden nahe Lhasa, ist nach «offiziellen Angaben», so der Sender Radio Free Asia, ein «Experiment». Die «Internationale Kampagne für Tibet» berichtet zudem, dass in der Tibet benachbarten Provinzen Qinghai und Sichuan Vorschläge diskutiert worden seien, «das Bildnis des Dalai Lama zu zeigen, die Denunzierung des tibetischen Führers zu beenden und die Präsenz der Polizei in Klöstern zu verringern». Das Propaganda-Büro des Kommunistischen Partei der Provinz Qinghai schrieb umgehend in einem SMS an alle Handy-Abonnenten der Provinz, dass sich die Politik bezüglich des Dalai Lama nicht verändert habe und dass jene, welche «diese Gerüchte verbreiten, nur die Absicht haben, die Entwicklung und Sicherheit der tibetischen Region zu runinieren». Die Nachrichten-Agentur Xinhua wiederum formuliert es so: «Unsere klare und konsequente Politik gegenüber dem Dalai Lama hat sich nicht verändert». In China gilt das geistige Oberhaupt des Lama-Buddhismus als «Wolf im Schafspelz» und als «Separatist», der die Nation spalten will. «Wenn der Dalai Lama seine Beziehungen mit der chinesischen Regierung verbessern will», heisst es in einem Schreiben der zentralen Religions-Behörden an die französische Nachrichten-Agentur AFP, «muss er seine separatistische Position aufgeben, und aufhören, Verlautbarungen abzugeben, die der friedlichen Entwicklung Tibets schaden».
Die chinesischen Behörden versuchen seit Beginn der Wirtschaftsreform, den Lebensstandard der Tibeter und Tibeterinnen zu verbessern. Mit sehr viel Geld, nicht immer jedoch mit dem nötigen interkulturellen Fingerspitzengefühl. Nomaden etwa zur Sesshaftigkeit zu nötigen, kam insbesondere bei älteren Tibetern nicht gut an. Dennoch, den Tibetern ging es - materiell - noch nie so gut, wie gerade heute. Der Ausbau der Infrastruktur etwa - Strassen, Eisenbahn, Flugplätze - trug viel zur Öffnung der Region bei. Die vor sieben Jahren eröffnete Eisenbahnlinie aufs Dach der Welt wurde freilich von Exil-Tibetern wider jede Vernunft als Anschlag auf die tibetische Kultur verurteilt. Dass immer mehr Chinesen nach Tibet kommen, hat wenig mit der offiziellen Politik zu tun als vielmehr mit dem durch die kapitalistische Wirtschaftreform angefachten Unternehmergeist. Die spirituell geprägten Tibeter hatten wenig Interesse und überliessen das Feld nicht selten den materiell geprägten Chinesen.
Lhasa ist heute eine moderne, in vieler Hinsicht eben eine typisch chinesische Grossstadt mit einem sorgfältig restaurierten historischen Kern, der zum UNESCO-Weltkulturebe gehört. Die Klöster werden streng überwacht, das religiöse Leben ist jedoch gewährleistet. Dissenz wird allerdings, wie anderswo in China, nicht geduldet.l Die Bevölkerung wird - wenn nötig mit «staatsbürgerlichen» Nachilfestunden - aufs nationale Einheitsbild eingeschworen. Wer als Tibeter studieren will, muss Chinesisch lernen. Der Chinesisch-Unterricht fördert deshalb, entgegen der Exil-Tibetischen Propaganda, eher die Chancen-Gleicheit mit den Han-Chinesen. Dazu kommt der Tourismus, der vieles verändert hat. Wenn westliche, buddhistisch angehauchte Touristen zum Beispiel mit den grossen geländegängigen SUV-Autos glänzenden Auges und ergriffen um den heiligen Berg Kailas «pilgern», kann trotz Verehrung «seiner Heiligkeit» kaum von kulturellem Respekt gesprochen werden. Ein Mönch des Klosters Gaden sagte mir einmal resigniert: «Was die Chinesen nicht erreicht haben, gelingt jetzt den Touristen».
Im März 2008, kurz vor den Olympischen Spielen in Peking, griff ein tibetischer Mob im Zentrum von Lhasa geschäftlich erfolgreiche Han-Chinesen an. Es waren die grössten Unruhen seit Beginn des Jahrhunderts. Bilanz: 19 Tote und sechshundert Verletzte. Die chinesischen Sicherheitskräfte schlugen gnadenlos zurück. Seither ist es in der Autonomen Region sowie in den teilweise von Tibetern bewohnten Provinzen Yunnan, Sichuan, Qinghai und Gansu zu 120 Selbstverbrennungen als Protest gegen die Chinesen gekommen. In der Pekinger Zentrale dämmerte es offenbar langsam, dass an der eingeschlagenen Tibet-Politik mit Schwerpunkt wirtschaftliche Entwicklung das eine oder andere geändert werden müsse.
Der Ruf nach Veränderung innerhalb der allmächtigen Kommunistischen Partei ist nicht mehr zu überhören, zumal mit Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premier Li Kejiang für die nächsten zehn Jahre neue Männer am Staatsruder sind. Kreative Vorschläge gab es schon viel früher. Der ehemalige Parteichef Hu Yaobang schlug «50 Jahre kulturelle und religiösen Autonomie» für Tibet vor. Der von Reform-Übervater Deng Xiaoping handverlesene KP-Supremo musste aber anfangs 1987 nach Demonstratione in Hefei (Provinz Anhui) wegen Sympathie für die aufmüpfigen Studenten zurücktreten.
Neue, mutige Vorschläge kommen jetzt aus einer eher unwahrscheinlichen Ecke, nämlich der Zentralen Parteischule, der Kaderschmiede der KP Chinas. Professorin Jin Wei forderte in einem Interview mit der Hongkonger Zeitschrift «Asia Weekly» einen «neuen, kreativen Blickwinkel» zum Tibet- und Dalai-Lama-Problem. Sie forderte eine Wiederaufnahme des Dialogs mit dem Dalai Lama, schlug vor, ihn zunächst nach Macao, dann nach Hongkong zu holen, um ihn schliesslich die Rückkehr nach Lhasa zu erlauben. Mit dem Dalai Lama sollte dann auch seine Nachfolge diskutiert werden. Jin Wei analysiert klarsichtig: «Wir müssen einsehen, dass der Dalai Lama von sechs Millionen Tibetern als lebendige Gottheit wahrgenommen und verehrt wird und eine grosse Anziehungskraft ausübt. Unsere Haltung ihm gegenüber und die Art und Weise, wie wir uns in entsprechenden Fragen verhalten, wirken sich auf die Gefühle von Tibetern aus. Deshalb können wir ihn nicht einfach als Feind behandeln.»
Auch eine weitere wichtige Frage spricht Professorin Jin an. Dass China der wirtschaftlichen Entwicklung Tibets grosse Bedeutung beimisst, die Bedeutung der Religion aber unterschätzt, wurde in den Reformjahren überdeutlich (Die Exiltibeter in Dharassalam in Indien hingegen unterschätzen die Wichtigkeit der Wirtschaft). Jin Wei sagt deshalb zuhanden ihrer Mit-Genossen: «Das tibetische Volk ist seit über Tausend Jahren durch die Religion geprägt und hat vorwiegend eine spirituelle und weniger eine materialistische Identität, schwergewichtig auf das nächste Leben ausgerichtet und weniger auf das jetzige. Das ist ein riesiger Unterschied zur Identität der Han-Chinesen. Die Kommunistische Partei Chinas muss das klar sehen und verstehen». . In der Realität freilich gibt es nicht nur das chinesische Weiss oder das westliche Schwarz, vielmehr geben Grautöne den Ton an. Anders ausgedrückt und als Messlatte für Tibet-Nachrichten zu empfehlen: nicht alles, was die chinesische Regierung sagt ist falsch, und nicht alles, was die Exil-Tibeter oder der Dalai Lama sagen ist richtig. Dasselbe gilt auch umgekehrt.
(Peter Achten/news.ch)
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