«Tokio abfackeln» – «New York verdampfen»

publiziert: Montag, 27. Dez 2010 / 20:41 Uhr / aktualisiert: Montag, 27. Dez 2010 / 21:17 Uhr
Handelt - aus seiner Sicht - völlig rational. Kim Jong Il
Handelt - aus seiner Sicht - völlig rational. Kim Jong Il

Nur knapp 20 Kilometer südlich des 38. Breitengrades – der tödlichen, nur drei Kilometer breiten und seit 1953 entmilitarisierten Zone – manövrierten über Weihnachten südkoreanische Tanks und Kampfflugzeuge und übten den Ernstfall.

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Präsident Lee Myung-bak wollte dem Norden erneut einen klaren Tarif durchgeben, nämlich ungleich früher Null-Toleranz gegen nordkoreanische Provokation und Aggression. Wenige Tage zuvor bereits feuerten südkoreanische Militärs mit scharfer Artillerie-Munition ins Gelbe Meer. Dieses Manöver war besonders brisant, weil es in der Nähe der umstrittenen Insel Yeonpyeong durchgeführt wurde, dort wo im November nordkoreanisches Artilleriefeuer niederging und zwei Soldaten und zwei Zivilisten ihr Leben verloren. Nach dem Pulverrauch Zeit also, in dem seit Beginn des Koreakrieges 1950 nicht enden wollenden Drama einmal mehr eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Die Sprecherin des chinesischen Aussenministerium Jiang Yu wollte von Entwarnung nichts wissen. Zweimal sagte sie in der Weihnachstwoche: «Die Situation bleibt kompliziert und delikat». Sie fügte das von China in der Nordkorea-Frage seit Jahr und Tage wiederkehrende Mantra hinzu: «Wir rufen alle Seiten dazu auf, Zurückhaltung zu üben und eine verantwortungsvolle Haltung einzunehmen».

Vor und während den Manövern überschlugen sich die diplomatischen Bemühungen. Nordkoreaner waren in Peking, Chinesen in Pjöngjang, Amerikaner in Tokio und Soeul, Chinesen in Moskau, Russen in Peking und Bill Richardson – Gouverneur von Neu Mexiko und ehemaliger US-Botschafter bei der UNO mit exzellenten Verbindungen seit den 90er Jahren zu Nordkorea – zu einem «Privatbesuch» in Pjöngjang. Die Nordkoreaner, immer bedacht auf möglichst grossen Erfolg, liessen gar – ansonsten Auslandjournalisten nicht gerade zugetan – ein CNN-Team mitreisen, von dem dann ein Senior Correspondent mit ernster Miene die Lage erklärte und Interviews führte ohne jegliche kritische Distanz, als nicht deklarierte, «eingebettete Journalisten». Nicht gerade eine Sternstunde des westlichen Journalismus.

Bill Richardson gab sich nach seinem Nordkoreabesuch verhalten optimistisch: «Ich habe eine pragmatische, eine realistischere Haltung festgestellt». In der Tat, Nordkorea reagierte auf das südkoreanische Manöver nicht so, wie angekündigt, nämlich mit «Feuer und Schwert». Nordkorea kritisierte zwar die «Provokation» des Südens, doch liess es durch ihre Medien die Weltöffentlichkeit wissen, dass man «keinerlei Bedürfnis hatte, zurückzuschlagen.»

Die Propaganda Nordkoreas für den Eigengebrauch im eigenen, für den Durchschnitts-Bürger nach Aussen hermetisch abgeschlossenen Land bleibt hart und rüde. Südkorea wird als mausearm und als «Marionette» und «Prostituierte» der USA dargestellt. Nach aussen deckt Pjöngjang Südkorea, Japan und vor allem den Erzfeind Amerika mit apokalyptischen Drohungen ein. Besonders wortreich tut dies Kim Myong-chol, ein nordkoreanischer, in Pjöngjang promovierter Sozialwissenschafter. Mit dem Kim-Clan ist er nicht verwandt, gilt aber als «inoffizieller» Specher des «Geliebten Fuehers» Kim Il-sung, dessen Nachfolger und Sohn, dem «Jungen General» Kim Il-un und Nordkoreas.

«Als aufstrebende, vierte mächtige Atommacht nach den USA, Russland und China», schrieb Kim, «verfügt Nordkorea über mehrere hundert nukleare Gefechtsköpfe in seinem Arsenal, eingeschlossen Wasserstoffbomben auf der Basis von Plutonium und Uranium, Neutronen-Bomben und nukleare Minen». Es kommt aber noch besser: «Nordkorea hat ungefähr 8'000 ultra-moderne Zentrifugen in Untergrund-Lokalitäten, die hoch angereichertes Uran wie heisse Brötchen produzieren». Mit alledem ist Pjöngjang in der Lage, seinem Erzfeind, den USA, die Stirne zu bieten: «Der junge General Kim Jong-un wird nur wenige Minuten brauchen, um Seoul in ein Meer von Feuer zu verwandeln, fünf Minuten um Tokio abzufackeln und 15 bis 20 Minuten, um New York und Washington zu verdampfen».

Vor einem Gegenschlag oder Erstschlag der USA hat laut Kim Nordkorea nichts zu befürchten: «Die Festung Nordkorea kann einem thermonuklearen Schlag widerstehen und ist in der Lage, achtzig bis neunzig Prozent der feindlichen Flugzeuge, Raketen und Marschflugkörper abzuschiessen». Selbst das wenige, was Nordkorea erreichen würde, wäre keine Gefahr: «Während die amerikanischen Wolkenkratzer unter einem tobenden Feuersturm zusammenbrechen und die Menschen in Panik in allen Richtungen Schutz und Zuflucht suchen, kann die gesamte nordkoreanische Bevölkerung innerhalb von fünfzehn Minuten in atomsichere Bunker evakuiert werden».

Fragt sich, ob die nordkoreanische Führung diese Propaganda selbst glaubt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht. Der «Geliebte Führer» Kim Jong-il wird in westlichen Medien zwar immer wieder als halbverrückter Spinner charakterisiert, doch die Erfahrung lehrt, dass er sehr wohl rational und überlegt handelt. Nach Ansicht aller ausländischen Experten, die chinesischen inbegriffen, verfuegt Nordkorea – wenn überhaupt – über sechs bis acht Atom-Sprengköpfe, bislang jedoch ohne die Möglichkeit, diese mit Lang- oder Mittelstreckenraketen erfolgreich in ein weit entferntes Ziel zu transportieren.

Während die westlichen Medien vor und während den Manövern hyperventilierten und «Breaking News» im Minutentakt rund um die Welt gingen, gaben sich Südkoreaner und Südkoreanerinnen relativ gelassen. Das Säbelrasseln und die harsche, mit rüden Worten gespickte Propaganda aus dem Norden ist für sie normal. In der Millionenstadt Soeul, in Reichweite nordkoreanischer Artillerie und Raketen, nahm der ganz normale Alltag seinen Lauf. Allerdings ist die Haltung gegenüber dem Norden seit einiger Zeit negativ.

Vor zehn Jahren noch, während der sogenannten «Sonnenscheinpolitik» des früheren Praesidenten Kim Dea-jong, war das anders. Hilfe ohne Vorbedingungen war damals die Strategie des «Blauen Hauses» in Seoul. Seit Beginn der Pekinger 6er-Gespraeche über das nordkoreanische Atomprogramm im Jahre 2003 jedoch hat Pjöngjang immer nur versprochen und wenig gehalten, auf Zeit gespielt, um internationale Nahrungsmittelhilfe zu bekommen und nach zwei Atombomben-Versuchsexplosionen 2006 und 2009 schliesslich trotz aller Versprechungen einer denuklearisierten koreanischen Halbinsel die Gespräche für «beendet» erklärt.

Nach der Versenkung eines südkoreanischen Schiffes durch Nordkorea und 46 toten südkoreanischen Matrosen im letzten Frühjahr war für die meisten Menschen im Süden die Sonnenscheinpolitik definitv zu Ende. Präsident Lee Myung-bak hatte bereits zuvor eine härtere Politik gegenüber dem Norden eingeschlagen. Jetzt honorieren nach neuesten Umfragen auch Südkoreas Bürger und Bürgerinnen die härtere Gangart. Natürlich bleiben Südkoreas Armee, Luftwaffe und Marine in hoher Alarmbereitschaft. Nordkorea ist immer für eine Überraschung gut.

Emissär Bill Richardson brachte vor einer Woche noch weitere frohe Botschaften mit nach Peking. Pjöngjang habe eingewilligt, die Telefon-Hotline zwischen nord- und südkoreanischen Militärs zur Verhütung von potentiellen Krisen wieder zu installieren. Richardson attestierte den Nordkoreanern zwar «staatsmännisches Verhalten», nachdem sie auf einen Gegenschlag verzichtet haben, sagte aber auch, das jetzt «Taten wichtiger sind als Worte». Im Klartext: Nordkorea soll an seinen Versprechen gemessen werden. Das gilt vor allem für das wichtigste Zugeständnis, das Richardson nach seinen Gesprächen in Pjöngjang mitgebracht hat, nämlich das Versprechen, wieder Inspektoren der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) ins Land zu lassen.

Die UN-Überwacher – bereits schon zweimal 2002 und 2009 aus dem Land gewiesen – sollen laut Richardson sicherstellen, dass Uran nicht zu waffenfähigem Material angereichert werden könne. Experten zweifeln. Nicht wenige reden von einer wertlosen Geste. Das Plutonium-Programm im Yongbyon Nuklear-Komplex hat bereits Material für sechs bis acht Atombomben produziert. Ob die Inspektoren dann auch das Uranium-Programm überprüfen können, steht auf einem ganz anderen Blatt, abgesehen davon, dass solche Anlagen nach Meinung von mit der Materie vertrauten Wissenschaftlern sehr leicht versteckt und verheimlicht werden können.

Im Augenblick kann nur wenig mit einem gewissen Grad an Sicherheit festgestellt werden:
- Pjöngjang versteht sich als Atommacht.
- Nordkorea versucht wie seit langem mit allen Mitteln die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und vor allem mit den Amerikanern ins Gespräch zu kommen.
- Niemand will einen Krieg, weder Nord- noch Südkorea, weder China noch die USA oder Japan.
. Nordkorea handelt nicht irrational sondern sehr berechnend. Das Atomprogramm ist Verhandlungstrumpf und Versicherung zugleich. Nordkorea fühlt sich tatsächlich bedroht und hat aus dem Schicksal des irakischen Diktators Saddam Hussein seine Lehren gezogen.
- Die Hauptprotagonisten misstrauen sich zutiefst. Pjöngjang will vor einer Einigung im Atomstreit einen Friedensvertrag und Sicherheits-Garantien. Washington, zusammen mit seinen Verbündeten Soeul und Tokio, will hingegen erst dann an den Verhandlungstisch der Pekinger 6er-Gespraeche zurückkehren, wenn Nordkorea sein Atomprogramm unüberprüfbar aufgibt. Erst dann gibt es einen Friedensvertrag und Sicherheitsgarantien. Die USA wollen verhindern, dass Nordkorea schliesslich als Atomwaffenstaat anerkannt wird.
- Peking schliesslich äussert keinerlei Kritik an die Adresse Pjöngjangs, ist aber frustriert über Nordkoreas Verhalten und versucht mit seinem – entgegen der Meinung des Westens – beschränkten Einfluss eine Verhandlungslösung zu ermöglichen.
- China hat das gleiche Endziel wie die USA, nämlich eine denuklearisierte koreanische Halbinsel.

Alles spricht also für eine Wiederaufnahme der Pekinger 6er-Gespraeche (Nord- und Südkorea, USA und China, Japan und Russland). Allerdings: Nordkorea ist immer für eine Überraschung gut. Und dies vor allem: Kriege sind, wie die Geschichte der letzten hundert Jahre zeigt, schon aus nichtigerem Anlass vom Zaun gebrochen worden.

(von Peter Achten/news.ch)

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