«Und wo bleibt das Positive?»

publiziert: Freitag, 24. Apr 2015 / 09:43 Uhr / aktualisiert: Dienstag, 28. Apr 2015 / 10:51 Uhr
Auch Erich Kästner hinterfragte die Frage «Und wo bleibt das Positive?» bereits.
Auch Erich Kästner hinterfragte die Frage «Und wo bleibt das Positive?» bereits.

Kritik an Aberglauben und Glauben wird oft als ausschliesslich zerstörend und negativ wahrgenommen. Das ist eine Fehleinschätzung. Trotzdem müssen wir Freidenkerinnen und Freidenker wohl öfter wiederholen, für welche positiven Inhalte wir einstehen. Auch wenn das in der schnelllebigen Aufmerksamkeitsökonomie und ohne grosse Werbekampagnen schwierig sein mag.

1 Meldung im Zusammenhang
Eine kürzlich erschienene WIN/Gallup-Studie hat festgestellt, dass in der Schweiz nur noch 38% der Einwohnerinnen und Einwohner auf die Frage, ob sie sich selber als religiös betrachten mit «Ja» antworten. Die meisten Gläubigen und Religionsfunktionäre können mittlerweile nicht mehr ignorieren, dass es mit dem religiösen Glauben hierzulande rasch bachab geht. Was sie aber noch können: Ignorieren, dass es auch ohne Gottesglauben möglich ist, gut zu sein.

Es wird gerne (z.B. neulich vom angeblich so netten Papst) von einer «Versuchung des Atheismus' und Bedrohung durch Säkularität» geschwafelt. Der frühere Bischof von Sitten riet den Freidenkern gar, «so zu leben, als ob es Gott gäbe» und äusserte sich sehr ignorant über ethische Grundlagen abseits religiösen Denkens. Auch bewies Bischof Brunner mehrfach, dass er nicht williens oder fähig war, zu verstehen, wie ein religiös-weltanschaulich möglichst neutraler Staat zu funktionieren hätte. Und fast täglich kann man in den entsprechenden Medien von intoleranten und unvernünftigen Äusserungen irgendwelcher Imame, Bischöfe, Kardinale oder Sektenführern lesen. Dass man ein theologisches Hochschulstudium erfolgreich hinter sich bringen und trotzdem unbefleckt von zeitgemässer Ethik bleiben kann, ist er- und bewiesen. Man kann dort seine Studien abschliessen, ohne mit den relevanten Fragen und Antwortversuchen der Philosophie des 19., 20. und 21. Jahrhunderts belästigt zu werden.

Müssten wir Freidenkerinnen und Freidenker also tatsächlich immer wieder und immer mehr positiv herausstreichen, was denn unsere Fundamente sind, wofür (und nicht: wogegen) wir einstehen? Wenn schon hohe religiöse Funktionäre sich nicht ernsthaft und eingehend mit den Positionen und Werten von Freidenkern, Humanistinnen und anderen Religionsfernen beschäftigen mögen, läge es dann an uns, öfter die Grundlagen darzulegen?

Meiner Meinung nach sollte sich vieles von selbst verstehen. Wir dürfen der Leserin und dem Leser durchaus etwas zutrauen. Leider gebiert der Schlaf der Vernunft und der Mangel an Interesse oder Nach-Denken aber Ungeheuer und Vorurteile. Unlängst konnte man einen lächerlichen (beleidigen lasse ich mich ja von dergleichen Geschreibsel nicht mehr...) Leserbrief des Gemeindepräsidenten von Embd im Walliser Boten sehen, der voller irriger Annahmen über Freidenker, Humanisten und Atheisten war. Dieser Gemeindepräsident war damals mit- oder hauptverantwortlich für meine fristlose Entlassung. Wenig Recherche hätte solche Lächerlichkeiten verhindert. Was uns selbstverständlich ist, scheint die weltanschauliche und politische Gegenseite halt eben alles andere als von selbst zu verstehen...

Trotzdem: Gerade wenn man die «Würdenträger» der römisch-katholischen Kirche und andere religiöse Fundamentalisten kritisiert, darf doch im Umkehrschluss stets gelten: Dass wir uns einsetzen für Toleranz, dass wir einstehen für die Gleichberechtigung, Gleichbehandlung und Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Dass wir für Menschen- und Freiheitsrechte kämpfen. Dass wir auch Lesben, Schwule, Transgender, Intersexuelle usw. in ihrer Sexualität als vollwertig wahrnehmen und behandeln. Dass wir uns gegen die Anmassungen und Vorschriften religiöser Meinungsführer verwahren, bedeutet: Mehr Freiheit und Eigenverantwortung. Weniger Moralisieren und Vorschriften und mehr Ethik und Toleranz.

Aber ich gebe gerne zu: Ich habe gelernt, dass es wohl zu viel verlangt ist, dass ein beträchtlicher Teil der zu erreichenden Bevölkerung mal ein Buch zur Hand nimmt, eine Grundsatzdiskussion im Radio oder als Podcast anhört, oder den einen oder anderen längeren Grundlagentext auf der Homepage der Freidenker durchliest. Ich stelle fest, dass man dergleichen ja noch nicht mal von der Mehrzahl der journalistisch tätigen Menschen verlangen kann...

Festzuhalten bleibt: Nein, wir definieren uns nicht negativ auf der Folie des Religiösen oder der Religiösen. Oftmals sind es aber aktuelle oder tagespolitische Vorkommnisse und Äusserungen von mehr oder weniger streng religiösen Menschen, welche uns auf die Palme bringen und uns zwingen, eine Gegenposition einzunehmen, sozusagen als eine Immunreaktion des gesunden, vernünftigen Geistes auf Unfug. Es geht dabei eben nicht immer nur um das Verhältnis von Staat und Kirche(n). Ich beispielsweise würde die demokratie-, freiheits- und frauenfeindliche Einstellung der römisch-katholischen Kirche auch dann kritisieren und bekämpfen, wenn der Staat nicht mit dieser Kirche im Bett wäre und sie finanzierte, hofierte und privilegierte. Ich kritisiere ja auch islamischen Fundamentalismus oder andere Sektiererei, unabhängig davon, ob ich diese mitfinanziere.

Es ist für Religiöse natürlich etwas unangenehm, wenn man den Finger auf Wunden hält und wird dann auch so wahrgenommen. Aber lediglich wegen des Wohlbefindens liberaler Religiöser darauf zu verzichten, Auswüchse der Religionen zu kritisieren, ginge entschieden zu weit! Das hier ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unser einziges Leben. Wir sollten also etwas daraus machen. Es ist wohl sogar ethischer, dass wir Freidenkerinnen und Freidenker diese Welt besser hinterlassen wollen, als wir sie vorgefunden haben, ohne auf eine versprochene Belohnung in irgendeinem übernatürlichen Jenseits zu hoffen. Wir tun Gutes, weil es gut ist. Wir können glücklich sein. Gottlos glücklich und gottlos gut. Und beim Nachdenken und Wirken in dieser Welt können wir auch einen wortwörtlichen Heidenspass haben, da uns das niemand verbietet.

(Valentin Abgottspon/news.ch)

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