Nach dem zweiten Satz wurden Erinnerungen an den Halbfinal
zwischen Justine Henin und Jennifer Capriati wach. Die Belgierin
war wie drei Tage zuvor gegen die Amerikanerin im ersten Durchgang
chancenlos und vom gegnerischen Tempo völlig überfordert, wusste
sich dann aber erneut gewaltig zu steigern. All das geschah
abermals nach einer Pause. Gegen Capriati hatte sich Henin wegen
einer Blase am rechten Fuss von der Physiatherapeutin behandeln
lassen, gestern wurde das Spiel wegen Regens für rund eine halbe
Stunde unterbrochen.
Im Final nutzte Henin die einzigen Breakchancen zur 5:3-Führung
und schliesslich zum Satzausgleich. Es sollte indes die einzige
kleine Schwächeperiode von Venus Williams bleiben. Im dritten Satz
servierte sie wieder ausgezeichnet; mit ihrem ersten Aufschlag
erreichte sie die «Traumquote» von 100 Prozent gewonnener Punkte.
Weiterhin die Weltnummer 2
Nach dem verwandelten Matchball fiel Venus Williams' Jubel
weniger heftig aus als im vergangenen Jahr, als sie ihre Freude mit
mehreren Luftsprüngen kund tat. «Das hing mit dem Spielstand
zusammen. Meinen ersten Sieg hier stellte ich im Tiebreak sicher,
nun führte ich 5:0.» Dieser zweite Titel bedeute ihr sogar mehr als
der erste. «Ich musste härter dafür kämpfen, weil ich in den ersten
Runden nicht sonderlich gut gespielt habe», erklärte die 21-jährige
Kalifornierin, die ihren Wimbledon-Titel als erste Spielerin seit
Steffi Graf 1996 erfolgreich verteidigte. Sie, die in der letzten
Saison auch das US Open für sich entschied, hat mittlerweile drei
der letzten fünf Grand-Slam-Turniere gewonnen, doch in der
Weltrangliste wird sie nach wie vor die Nummer 2 hinter Martina
Hingis sein. Justine Henin dagegen wird von der 9. an die 5. Stelle
vorrücken und diese Woche so gut klassiert sein wie noch nie.
Henin nicht entäuscht
Justine Henin war nach der Niederlage in ihrem ersten Grand-
Slam-Final keineswegs enttäuscht. Venus Williams sei nicht nur
spielerisch, sondern auf Grund ihrer Erfahrung auch mental stärker
gewesen als sie, sagte die 19-Jährige, die nach elf Siegen in WTA-
und ITF-Turnieren erstmals überhaupt ein Endspiel verlor. «Es war
trotzdem ein grosser Moment für mich, vor allem nach dem
Satzausgleich. Das war ja erst mein zweites Wimbledon-Turnier.»
Überhaupt habe sie gegen die zur Zeit wohl beste Rasenspielerin
verloren. «Dank ihrem unglaublichen Service ist sie auf dieser
Unterlage besonders stark. Es wird wohl auch in Zukunft schwierig
werden, sie in Wimbledon zu schlagen.»
Drei Schicksalschläge
Wie keine zweite Spielerin weiss Justine Henin Siege und
Niederlagen richtig einzuordnen; Resultate auf dem Court werden
durch das Leid relativiert, das die Familie Henin in den letzten
Jahren hat verkraften müssen. Justine war noch nicht geboren, da
wurde ihre dreijährige Schwester bei einem Verkehrsunfall getötet;
Florence wurde von einem betrunkenen Automobilisten überfahren.
Ihre schwärzeste Stunde erlebte Justine Henin vor sechs Jahren, als
ihre Mutter Françoise an Krebs starb. Vor vier Monaten schlug das
Schicksal wiederum grausam zu. Justines Neffe Emilien, der Sohn
ihres Bruders Thomas, starb drei Monate nach der Geburt an einer
unheilbaren Krankheit.
Schicksalsschläge schweissen eine Familie normalerweise
zusammen. Bei den Henins war dies zuletzt nicht der Fall; Justine
und ihr Vater José gehen seit geraumer Zeit getrennte Wege. Die
Tocher schweigt sich über dieses Thema aus. Gesprächiger ist
diesbezüglich José. «Ich werde versuchen, unsere Beziehung so
schnell als möglich wieder ins Lot zu bringen.» Ausgelöst wurden
die Probleme unter anderem durch Justines Liaison zu ihrem Freund.
«Mittlerweile habe ich dies akzeptiert», sagt der Vater dazu.
(sda)