Wayne Rooney - ein englischer Wunderknabe

Gerade in einer Zeit, in welcher die Coaches mehrheitlich auf die Absicherung der eigenen Zone achten, wirken Typen wie Wayne Rooney mehr als nur erfrischend. Sie leben im verbarrikadierten Strafraum auf, sie entzücken mit ihren herrlich unbeschwerten Auftritten im Falle Englands mindestens drei Viertel der Bevölkerung, und sie tragen schon bald einmal die Hoffnungen der vereinten Fussball-Nation. Rooney soll den seit 1966 titellosen Engländern (endlich) den unermesslichen Wunsch nach Ruhm und Ehre erfüllen.

Wer die Produkte der englischen Kommentatoren studiert, der glaubt gar, das (Sport-)Schicksal hänge vollumfänglich von den Bewegungen des unheimlich begabten Halbwüchsigen ab. In Kürze dürfte der Boulevard beim Premierminister Tony Blair im Namen der Leserschaft den Antrag stellen, das Land in "Wayne´s World" umzubenennen. Seit Rooney in Portugal Tore en masse produziert, werden in den Sportartikel-Fabriken Sonderschichten geleistet. Mitglieder der "Rooney-Army" (Sun) pflegen sich in der entsprechenden "Uniform" zu kleiden.

Rooney stellt derzeit alle Stars in den Schatten

Der Wunderknabe aus dem Liverpooler Quartier Croxteth hat im Moment mehr zu bieten, als die Starbesetzung Nike-Werbespots in corpore. Der vierfache EM-Torschütze stellt derzeit einen Luis Figo, einen Thierry Henry oder David Beckham, den erklärten Liebling aller Paparazzi, in den Schatten. Seit Tagen steht der Boy-Man, wie Rooney von den englischen Journalisten treffend beschrieben wird, im Bann der Öffentlichkeit und auf den Frontseiten der britischen Massenblätter.

Seitenweise werden alle Details seines Lebenslaufs veröffentlicht. Immer schon wollte Rooney für Everton in der Premier League spielen; wohl auch deshalb sei er vor Jahren angeblich im Shirt der Toffees zum Probelektion beim FC Liverpool erschienen. Wie ein Besessener muss Rooney gekickt haben -- nicht auf grüner Unterlage, sondern zusammen mit Kollegen auf dem Asphalt. Daran änderte sich auch nichts, als er im Oktober 2002 mit seinem ersten Tor bei den Profis auf Anhieb der Erfolgserie Arsenals ein Ende setzte.

Besuch von Gascoigne

Nur zwei Jahre später wird der Schulabgänger nun mit Gary Lineker und Paul Gascoigne verglichen. Plötzlich stellen ihn die Experten seiner Heimat (voreilig?) auf die Stufe zweier Idole, die er vor kurzer Zeit noch im Stanley Park im Spiel gegen seine Kumpels selber kopiert hatte. Gascoigne hat ihn vor der EM gar besucht und ihm vermutlich jenes Glück gewünscht, das ihm, dem Alkoholiker, während und vor allem nach der Karriere vorenthalten blieb.

Die Hoffnung ist berechtigt, dass Rooney nur auf dem Feld den Spuren Gascoignes folgen wird. Solange er noch darf (der Transferwert des Stürmers hat überdimensionale Werte erreicht), wird Evertons Coach David Moyes die Entwicklung des Stars mit flankiernden Massnahmen begleiten. Schon vor dem Gang ins EM-Rampenlicht hat Moyes seinen Schützling bewusst ab und an im Hintergrund belassen. Als Rooneys Mutter bei einer Geburtstagsparty die Eltern der Freundin ihres Sohnes im Vollrausch traktierte, stellte sich Moyes ebenfalls schützend vor den Jung-Profi.

Instinktfussballer

Bis zum heutigen Zeitpunkt zahlt sich die Arbeit von David Moyes aus. Der frühreife Internationale lässt sich von der Hysterie um seine Person nichts anmerken. Der Tour-Doublette gegen die Schweiz liess der breitschulterige Junior mit dem Nacken und der wilden Art eines Stiers im Duell mit Kroatien zwei weitere herrliche Treffer folgen. Die Weise, wie Rooney sich jeweils den Raum zur erfolgreichen Aktion verschaffte, ist kaum hoch genug einzuschätzen. Instinktiv entschied sich der Topskorer der Vorrunde durchwegs für die richtige Abschlussvariante.

Er besitzt die Gabe, die Angriffszüge zu erahnen und ist dazu mit dermassen viel Speed gesegnet, dass ihn selbst auf höchstem Niveau kaum ein Verteidiger in einer 1:1-Situation zu stoppen vermag. Zum Glück, wird der Beobachter des italienischen EM-Auftritts sagen, erblickte Rooney das Licht der Welt nicht südlich der Schweiz. Er liesse sich gewiss nie in ein taktisches Korsett zwängen. Die schnurgeraden Wege des wilden Angreifers darf man nicht umleiten; das hat insbesondere Sven-Göran Eriksson schnell einmal erkannt.

Selbst der Selektionär der englischen Nationalmannschaft streifte im Urteil über die Ausnahmefigur seine schwedische Zurückhaltung ab: "Ich kann mich an keinen gleichaltrigen Spieler erinnern, der an einem grossen Turnier derart grossartig einschlug -- Pelé an der WM 1958 in Schweden." Dem Kompliment ist nichts beizufügen.

(Sven Schoch, Lissabon/Si)