Roger Federer hat in diesem Jahr mehr gewonnen als jeder andere Spieler (60 Siege) - aber besser als gestern ist der 33-jährige Basler seit langem nicht mehr aufgetreten. Er ging mit einer eigentlich Kamikaze-Taktik ins Spiel; Offensive um jeden Preis. Kamikaze ist es allerdings nur, wenn man es nicht beherrscht. Federer agierte aber am Netz so stilsicher, dass selbst sein in Schanghai nicht anwesender Coach Stefan Edberg neidisch würde. Und Federer punktete gegen den wahrscheinlich besten Defensivspieler Djokovic mit insgesamt 35 direkten Gewinnschlägen (und 23 Eigenfehlern). Die Weltnummer 1 hingegen kam in gut eineinhalb Stunden nur zu einem einzigen Breakball, den Federer im sechsten Game des ersten Satzes - natürlich - mit einem Vorhand-Winner abwehrte.
Djokovic war mit dem Resultat noch gut bedient. Denn Federer, der 17-fache Grand-Slam-Champion, nutzte nur zwei seiner insgesamt zehn Breakchancen. Immer wieder verwarf sein serbischer Gegner die Hände oder schüttelte den Kopf. Das Spiel lief im Qi-Zhong-Stadion von Schanghai mehrheitlich an ihm vorbei, er konnte sich dem Druck, den Federer ausübte, nie entziehen. Im ersten Satz ging der Schweizer mit 3:2 erstmals in Führung, als Djokovic einen Passierball ins Netz setzte. Nachdem er im folgenden Game die einzige heikle Situation überstanden hatte, geriet er nie mehr in Rücklage. Für das Aufschlagspiel zum 5:3 brauchte er gerade mal 47 Sekunden (drei Asse, ein Servicewinner). Auch den Satzball verwertete er mit einem seiner total sieben Asse.
Im zweiten Durchgang drückte Federer sofort wieder aufs Gaspedal. Mit einer weiteren krachenden Vorhand holte er sich sofort das Break zum 1:0. Dennoch wurde die Partie in der Folge umstrittener. Der Schweizer, der am Montag wieder erster Verfolger von Djokovic in der Weltrangliste wird, musste mehr um die Punkte kämpfen. Der Serbe hatte seit 2012 in 28 Spielen auf chinesischem Boden nicht mehr verloren - und er stemmte sich gegen die unliebsame Premiere. Im fünften Spiel wehrte er vier Breakbälle zum 4:1 für Federer ab, im achten brauchte dieser acht Spielbälle, ehe er seinen Aufschlag zum 5:3 durchbrachte. Anschliessend wehrte Djokovic noch zwei Matchbälle ab, doch bei eigenem Service liess sich Federer danach nicht mehr vom Weg abbringen. Mit einem perfekten Rückhand-Volley holte er sich den 19. Sieg gegen Djokovic (bei 17 Niederlagen).
Damit wechseln sich die beiden in diesem Jahr weiterhin ab mit gewinnen. Dreimal setzte sich Federer durch (in den Halbfinals in Dubai, Monte Carlo und Schanghai), die Weltnummer 1 konterte jeweils mit hauchdünnen Finalerfolgen in Indian Wells und Wimbledon. "Ich glaube, so gut hat Roger gegen mich noch nie gespielt", mutmasste der Serbe nach dem 36. Duell. "Es war auf jeden Fall ein grossartiges Spiel", fand auch Federer. Nach der fast zum Debakel ausgearteten Startrunde mit fünf abgewehrten Matchbällen gegen Leonardo Mayer habe er sich nun an die Bedingungen angepasst. "Da hatte ich viel Glück. Umso mehr möchte ich dies nun zum Turniersieg nützen", erklärte der Schweizer. "Ich hatte erst gerade Ferien, fühle mich frisch und nun ist auch das Vertrauen voll da."
Final gegen Gilles Simon
In seinem zweiten Schanghai-Final nach 2010 (Niederlage gegen Andy Murray) trifft Federer heute Sonntag (10.30 Uhr) auf den überraschenden Franzosen Gilles Simon. Die Weltnummer 29 schaltete im Halbfinal nach den Top-Ten-Spielern Stan Wawrinka und Tomas Berdych auch den spanischen Linkshänder und Nadal-Bezwinger Feliciano Lopez (ATP 21) 6:2, 7:6 aus. "Ich weiss, dass ich auf dem Level der Besten bin, wenn ich gut spiele", zeigte sich die einstige Weltnummer 6, die 2008 in Schanghai Federer bezwungen und den Masters-Halbfinal erreicht hatte, selbstbewusst. "Die Frage ist nur, ob ich am Sonntag in der Lage bin, dieses Niveau abzurufen." Gegen Federer hat er die ersten zwei Duelle 2008 gewonnen, seither aber viermal verloren - wenn auch meist nur knapp. "Gegen Simon bekommt man einen Rhythmus, ich bin deshalb sicher, dass ich nicht schrecklich schlecht spielen und keine Chance haben werde", glaubt Federer. "Aber einfach wird es deshalb nicht."
Der 29-jährige Wahl-Neuenburger, der von Jan De Witt, dem ehemaligen Coach von Marco Chiudinelli, betreut wird, bestreitet heute seinen zweiten Masters-1000-Final nach Madrid 2008 (Niederlage gegen Murray). Federer hingegen steht ins einem 39. Final auf der höchsten Stufe der ATP (die Grand-Slam-Turniere werden vom Internationalen Tennisverband ausgerichtet) und strebt seinen 23. Titel an. In diesem Jahr steht er bereits in seinem neunten Final, mehr als jeder andere Spieler. Er ist nur deshalb nicht die Nummer 1, weil er "nur" drei dieser Finals gewonnen hat - und keinen Grand-Slam-Titel aufweist.
(bert/Si)