Dank Apéros zur Richtlinie

publiziert: Donnerstag, 22. Sep 2005 / 08:54 Uhr

Was in Bern Sache ist, gilt auch für Brüssel. Oft kann man bei einem Apéro mehr erreichen als in der Schweiz mit einer mühsam lancierten Initiative oder in Europa über einen Rat.

Lobbying kann ganz angenehm sein: Mittagessen, Apéros, Seminarien, Vernissagen, gemeinsame Geburtstagspartys...
Lobbying kann ganz angenehm sein: Mittagessen, Apéros, Seminarien, Vernissagen, gemeinsame Geburtstagspartys...
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55 000 gibt es davon. Der Markt und die Konkurrenz untereinander sind gross. Punkto Aufmerksamkeit zudem pickelhart. Von der Tradition her eigentlich völlig uneuropäisch. Doch dank der globalen Politkultur von den Washington mittlerweile viel gelernt. Die Rede ist von den Lobbies in Brüssel.

Unternehmer, Regionen, einzelne Bundesländer, die Mitgliedstaaten, Nichtregierungsinstitutionen, Think Tanks, Medienorganisationen, Universitäten, und und und... Alle haben mittlerweile ihre Lobbyisten in Brüssel. Weshalb? Weil den meisten klar ist, dass immer mehr Brüssel statt Berlin, Paris, London etc. den Takt vorgibt. Vorgeben muss.

EWR: Ein grösserer Schritt als angenommen

Denn 1992 wurde mit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion ein viel grösserer Schritt getan, als dies die meisten Europäer wissen. Das Verschwinden der deutschen Mark, des französischen Francs und der italienischen Lira mag zwar noch symbolisch wehtun, doch gemessen an anderen Schritten in der Wirtschaftsunion ist die Einführung des Euros eigentlich ein Klacks.

Freier Handel und freier Kapitalverkehr sind Gewöhnungssache. Freie Dienstleistungen und freier Personenverkehr hingegen bringen im Vergleich dazu mentale Fast-Revolutionen. Dass ein polnischer Schlachter ebenso gut wie ist ein deutscher Schlachter und dies erst noch zu einem Drittel des Preises, will wenigen einleuchten. In den Köpfen gibt es eben immer noch territoriale Grenzen. Selbst wenn alle nach «Markt» schreien. Märkte aber mögen Grenzen nicht. Märkte tendieren auch dazu, immer grösser zu werden.

Die aktuellen Sorgen und Ängste

Als Historikerin kenne ich die aktuellen europäischen Ängste und Sorgen aus der Schweizer Geschichte und Politik.

Dienstleistungen? Von Kanton zu Kanton verschieden. Bürgerrecht? Von Kanton zu Kanton verschieden. Steuern? Von Kanton zu Kanton verschieden. Wenigstens letzteres sollte aktuell bekannt sein, ansonsten hätte Marcel Ospel UBS mit seinem Wohnortswechsel in den Kanton Schwyz jetzt nicht – laut 10vor10 – etwas über 3 Millionen Franken sparen können.

Das «von Kanton zu Kanton verschieden» mag nun in vielen Bereichen sinnvoll sein, doch in anderen – siehe unterschiedliche Schulferien, Schulreglemente und Diplome – behindern solche regionalen Eigenheiten die Mobilität moderner Menschen. Und Mobilität gehört zu einer Wirtschafts- und Währungsunion wie das Amen in der Kirche. Ohne freien Personenverkehr auch keinen freien Markt.

Dass sich gerade mit der Freiheit und der Mobilität die Schweizer und Schweizerinnen noch etwas schwer tun, ist verständlich. Schliesslich waren beispielsweise alle Frauen, die bis 1986 mit einem Schweizer verheiratet waren punkto Berufswahl, Wahl des Arbeits- und/oder Wohnorts alles andere als frei. Sie brauchten nämlich, rein juristisch gesehen, noch die Erlaubnis ihres Gatten – o temporas o mores!

Wirtschaftsunion kein Klacks

Doch inzwischen haben sich die Zeiten in der Schweiz und eben auch in der EU geändert. Vieles ist einfacher, manches auch schwieriger geworden. Denn die innere Dimension einer Wirtschaftsunion ist eben kein Klacks.

Steuern, Umweltrecht, technische Mindestnormen, Arbeitszeiten, Einbürgerungsbestimmungen – alles ist im Fluss und in politischer Beratung. Dass diese wichtigen Geschäfte nicht einfach den gewählten Politikern und Politikerinnen sowie den Beamten überlassen werden, liegt auf der Hand.

Auch die Schweiz hat in der EU eine Lobby. Muss sie haben. Denn wer in diesem Mega-Chor nationaler, wirtschaftlicher, politischer, kultureller, landwirtschaftlicher, bildungstechnischer etc. Interessenausmarchung keine Stimme hat, hat bald auch keinen Möglichkeit zum Singen mehr. Niemand weiss bei der EU zwar so genau, wohin die Wirtschafts- und Währungsunionsreise noch überall hinführt, doch dass der Zug abgefahren ist, bezweifeln nur noch Phantasten. Daran ändert auch nichts, dass die Verfassungslinienführung beispielsweise neu umgebaut werden muss.

Die Reise ist nicht aufzuhalten, höchstens etwas zu verlangsamen. Deshalb gibt es die 55 000 ja. Grosse Veränderungen brauchen auch grossen Konsens. Und deshalb ist es auch in Brüssel nicht mehr anstössig, dass Kommissionsbeamte manchmal grosse Verbände anrufen, um Auskünfte über die Branche oder mögliche Auswirkungen von Gesetzesvorhaben zu erhalten.

Rückkoppelung aus der Praxis hat noch niemanden geschadet. Und auch da funktioniert die EU nicht anders als die Schweiz. Vernehmlassungsverfahren, Kantonalkonferenzen, Expertenkommissionen etc. sind alles auch Teil der Interessenausmarchung in der Schweiz und funktionieren bisher auch nicht schlecht. Doch was sowohl in Brüssel als auch in Bern so formell klingt, sieht praktisch ganz angenehm aus. Lobbying besteht nämlich in grossem Masse nicht in erster Linie aus Denken und Papiere schreiben, sondern aus Mittagessen, Apéros, Seminarien, Vernissagen, traulichen Beisammensein an gemeinsamen Geburtstagsparties usw.

So ist es in Brüssel manchmal einfacher, via Apéro eine Politik herbeizuführen als den offiziellen Weg via Rat, Kommission und Parlament zu gehen. Wie es in der Schweiz effizienter ist, statt einer Initiative zu lancieren, besser einmal mit einem Ständerat Mittag essen zu gehen. Oder noch besser mit dem CEO eines grossen Unternehmens. Was sofort zeigt, dass manchmal auch Menschen ausserhalb seltsamerweise die grössten Chancen innerhalb kriegen.

(Regula Stämpfli/news.ch)

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