Fünf Minuten vor Schluss, der direkte Konkurrent Kroatien lag im
fernen Yokohama 0:1 zurück, löste sich die Anspannung in den
Gesichtern der Italiener schlagartig. Der erst in der 78. Minuten
für den enttäuschenden Francesco Totti eingewechselte Alessandro
Del Piero warf sich in die Drehflanke Vincenzo Montellas und
erzwang mit dem Kopf den Ausgleich.
Mit seinem achten Treffer im blauen Dress beruhigte der
unverständlich spät eingetretene Turiner Edeljoker die zum
Zerreissen gespannten Nerven der Azzurri. Sein unnachahmlicher
Instinkt und die kroatische Unkonstanz bewahrten den dreifachen
Weltmeister vor einem landesweiten Lamento.
Dass sich der Titelanwärter auf Grund der Geschehnisse in
Yokohama gar eine 0:1-Niederlage hätte leisten können, sei nur noch am
Rande erwähnt. Dennoch: Ein weiterer Fehltritt hätte in der
italienischen Presselandschaft unweigerlich einen Sturm der
Entrüstung zur Folge gehabt.
Fürs Erste werden im Land des Calcio selbst die schärfsten
Kritiker froh sein, den Tifosi nicht vom ersten Vorrunden-Out seit
1974 berichten zu müssen. «Wir haben gezittert, jetzt aber sind wir
glücklich», sprach Giovanni Trapattoni seinem leidenden
Fussballvolk im nass geschwitzten Anzug aus dem Herzen. «Es gibt
einen Gott und Gerechtigkeit. Gott hat meine Gebete erhört»,
jubelte der Maestro mit heiserer Stimme in die Mikrofone der
Reporter.
Italien mit dem «Tridente»
Trapattoni hatte auf das schmerzliche 1:2 gegen Kroatien
reagiert. Christian Panucci verstärkte das Mittelfeld, für
Cristiano Doni nominierte der «Mister» Totti hinter dem
neuformierten Sturm-Duo Vieri und Inzaghi. Der so genannte
«Tridente» zeigte zu Beginn Wirkung, zumal Mexiko kaum einmal
gefährlich in die Platzhälfte der Italiener vorstiess. Und als
Filippo Inzaghi nach 13 Minuten und dem vermeintlichen
Führungstreffer die Arme hochriss, rieb sich «Trap» die Hände. Sie
alle rechneten nicht mit dem Veto des Schiedsrichters, der
fälschlicherweise eine Offsideposition anzeigte.
Sollte sich die italienische Leidensgeschichte, die in den
Fehlentscheiden der verlorenen Kroatien-Partie ihren Anfang nahm,
etwa wiederholen? Alles deutete darauf hin. Die Italiener mühten
sich ab, ergriffen in der Not (endlich) die Initiative, bestimmten
in den ersten halben Stunde den Rhythmus, aber Francesco Totti
schlenzte den Ball selbst aus günstigster Position neben das
verwaiste Tor der Mexikaner. Panucci liess sich im Strafraum
fallen, Totti verpasste seinen ersten WM-Treffer mit einem
Freistoss um Haaresbreite.
Anders als bei ihren bekannten Minimalisten-Darbietungen
früherer Glanzzeiten stand der Ertrag bei den Italienern für einmal
in keinem Verhältnis zum betriebenen Aufwand. Weitaus effizienter
präsentierten sich vor der Pause die Mexikaner, die ihre erste gute
Möglichkeit in der 35. Minute gleich nützten. Nach einer gekonnten
Stafette zirkelte Cuauhtemoc Blanco den Ball auf Jared Borgetti,
der rücklings zum Tor springend Italiens Torhüter Buffon mit einem
herrlichen Kopfstoss bezwang.
Fiasko in Reichweite
Die bis dato überraschende und zweifelsohne nicht zwingende
Schieflage hätte in der Folge bedeutend prekärer ausfallen können,
weil sich die Mittelamerikaner in jenem Mass steigerten, wie die
Azzurri aus dem Konzept schlitterten. Fabio Cannavaro verhinderte
mit einem Grätschsprung gegen Blanco das sichere 0:2. Bei einer
fantastischen Kombination zwischen Blanco und Jesus Arellano
vermied die verunsicherte Mannschaft von Trainer Trapattoni um
Haaresbreite ein Fiasko.
Der späte Ausgleich durch Del Piero, der in seinem Kurzeinsatz
mehr bewirkte als der stets hochgelobte Totti in den 78 Minuten
davor, liess die Aufbauprobleme der Italiener nicht vergessen. Es
sei darauf hingewiesen, dass sich die zum engsten Favoritenkreis
zählende Squadra in der zweiten Hälfte mit Ausnahme weniger Szenen
kaum Chancen kreierte. Die exzellent gruppierten Mexikaner standen
dem ersten Sieg gegen Italien eher näher als der Favorit dem Remis.
Stadium Big Eye, Oita/Jap. -- 43 000 Zuschauer (ausverkauft). --
SR Simon (Br). -- Tore: 35. Borgetti. 85. Del Piero 1:1.
Mexiko: Perez; Vidrio, Marquez, Carmona; Arellano, Rodriguez
(76. Caballero), Luna, Torrado, Morales (76. Garcia); Borgetti (80.
Palencia), Blanco.
Italien: Buffon; Cannavaro, Nesta, Maldini; Zambrotta, Tommasi,
Zanetti, Panucci (63. Coco); Totti (78. Del Piero); Inzaghi (56.
Montella), Vieri.
Bemerkungen: 13. Treffer von Inzaghi wegen angeblichem Offside
annulliert. Verwarnungen: 2. Arellano (Foul), 5. Cannavaro (Foul;
im Achtelfinal gesperrt), 9. Panucci (Schwalbe), 43. Totti
(Schwalbe), 55. Zambrotti (Foul), 57. Montella (Unsportlichkeit),
84. Perez (Zeitverzögerung).
(bb/sda)