Denn sie wissen nicht, wer sie sind

publiziert: Mittwoch, 25. Aug 2010 / 12:25 Uhr
«Von tausend Menschen ist nur einer Schweizer.»
«Von tausend Menschen ist nur einer Schweizer.»

Die Schweiz ist an einem politischen Wendepunkt, aber nur die SVP entschlüpft dem Harmoniekokon Innenpolitik. Die Folge ist eine sinnleere Symptombekämfpung, welche die wirklichen Probleme nicht anpackt: Die Schweiz ist in der Identitätskrise.

«Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen», hat Max Frisch gesagt. Aber Max Frisch ist seit bald 20 Jahren tot, und ich glaube, das hört man der Schweiz schon ein wenig an. Es wird zwar nicht mehr geschwiegen als früher. Im Gegenteil, es wird sogar lauter geredet, aber auch weniger zugehört. Insbesondere, wenn es um das Ausländerproblem geht. Überall scheint es sich zu verstecken, in der Schule, in der Religion und, am schlimmsten, am Arbeitsplatz. Es juckt und brennt und wenn die Schweiz sich am Arm kratzt, taucht es am Oberschenkel wieder auf.

Das Land der Nicht-wie-die-Anderen

Doch das Ausländerproblem ist ein Phantomschmerz. Eigentlich tun uns nicht die Glieder weh, sondern das Gehirn und die Nerven. Anders gesagt: Die Wurzel unseres Problems liegt nicht bei den Ausländern, sondern bei uns und unserer Identität. Wir wissen nämlich nicht, wer wir sind. Die Schweiz ist leer. Sie hat Traditionen, aber keine Ideale. Sie weiss, woher sie kommt, aber nicht, wohin sie gehen will. Sie kann dank dem Ausland sagen, was sie nicht ist - islamistisch, gläsern und EU-hörig - aber nicht, was sie heute noch ausmacht. Das zeigt sich am Bundesrat und an seiner neuen, mutlosen Europapolitik, die eigentlich gar nicht so richtig neu, dafür um so mutloser ist. Das zeigt sich aber auch an unserem Verlangen, alte Traditionen des Alters willen hochleben zu lassen, seien es Oesch‘s die Dritten oder Wenger Kilian.

Aber warum haben wir denn keine Ideale und keine Zukunftspläne? Vielleicht, weil wir sie in den letzten achtzig Jahren nie gebraucht haben und sie gleichzeitig Geld kosten. Auf Nazigold zu verzichten, kostet. Auf Rüstungsexporte zu verzichten, kostet. Als erstes Land alternative Energien zu fördern, kostet. Der Werkplatz Schweiz verträgt keine Ideale, denn Ideale kosten Arbeitsplätze. Und die Schweizerischen Arbeitsplätze sind dem Schweizer nun einmal heilig, sei er links oder recht.

Sechzig Jahre lang hat das gut funktioniert. Wir hatten es uns im Westen gemütlich eingerichtet, gebettet auf unversteuerten Milliarden und zwischen wohlwollenden Nachbarstaaten, geschützt vor der roten Bise aus dem Osten. Die Linke liess die Banken in Ruhe und die Rechte den Sozialstaat. Fasziniert beobachteten wir den Kampf der Ideologien aus unserem Versteck heraus und wagten uns nur nach draussen, wenn ein paar Goldstücke zu Boden fielen. Eine warme Decke aus Sozialstaat und Arbeitsfrieden behütete auch den Schwächsten im Land. Die Welt draussen war brutal und kriegerisch, aber wir hatten es alle «rächte».

Schon gehört: Die Mauer ist weg!

Wir haben es immer noch gut und recht, aber die Zeiten ändern sich. Der böse rote Feind wurde vor 20 Jahren besiegt. Der globale Standortwettbewerb ist in vollem Gange und zerpflückt unseren nationalen Wohlfühlkonsens. Die Wut auf die Abzocker und Boni-Banker zeigt das in aller Deutlichkeit. Strengere Bankengesetze könnten wiederum Oswald Grübel dazu zwingen, Arbeitsplätze abzubauen. Jawohl, Arbeitsplätze. Hebt die Schweiz ihre Dumping-Steuersätze an, dann sind die reichen Ausländer weg. Lockert sie das Bankgeheimnis, nehmen sie ihre Konten gleich mit. Wenn nun Deutschland, Frankreich und die USA, selbst unter Konkurrenzdruck, unser Bankgeheimnis zerzausen wollen, können wir nicht viel dagegen tun. Denn eines vergessen wir nur zu leicht im warmen Nest: Von tausend Menschen ist nur einer Schweizer.

Die alte Schweiz geht kaputt. Wenn nicht heute, dann nach zehn weiteren Jahren selbstverordneter Isolationshaft. Die Zeit ist reif für eine neue Schweiz, mit neuen Zielen und einer neuen Identität. Für eine Schweiz, die sich bewusst ist, dass wir die Hälfte unseres Bruttoinlandprodukts bei den Ausländern verdienen. Für eine Schweiz, die ihre Rolle in der Welt und in Europa wahrnimmt und als Teil eines Ganzen deren Probleme anpackt. Das heisst zunächst einmal: Für eine Schweiz in der Europäischen Union. Je früher, desto besser.

Was soll die Schweiz sonst noch sein? Die Diskussion ist offen und sollte nicht einfach der SVP überlassen werden. Wenn das Alphorn verstummt, der Bundesrat nichts sagt und Max Frisch, er ruhe in Frieden, auch nichts mehr dazu sagen kann, dann müssen wir halt etwas sagen.

(André Müller / Tink.ch)

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