Ein Land im Ausnahmezustand

publiziert: Sonntag, 2. Jul 2006 / 09:42 Uhr / aktualisiert: Sonntag, 2. Jul 2006 / 10:07 Uhr

Deutschlands WM-Höhenflug ist in einer Zeit, in der im Gastgeberland mehr als fünf Millionen Menschen arbeitslos sind, viel mehr als nur eine willkommene Ablenkung. Viele Leute hoffen, dass die Euphorie nicht schon gegen Italien endet.

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Es waren eine Momentaufnahme, die Symbolcharakter hatte. Am Berliner Alexanderplatz erhob sich am späten Freitagabend nach dem gewonnenen Viertelfinal gegen Argentinien ein nicht mehr ganz nüchterner Obdachloser und sang aus voller Kehle «Steht auf, wenn ihr Deutsche seid». Seiner mit einer Handbewegung noch deutlicher gemachten Aufforderung wurde gefolgt, wenig später tanzte der halbe Platz. Der Obdachlose lächelte zufrieden und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche.

Jenes Land, in dem viele laut lachten, als Jürgen Klinsmann bei seiner Amtsaufnahme vor zwei Jahren den WM-Titel im eigenen Land zum Ziel erklärte, befindet sich seit Wochen im Ausnahmezustand, der an Spieltagen mit deutscher Beteiligung auch zum Dauerrausch wird. Es feiert seine WM-Spieler, es feiert Klinsmann und es feiert auch sich selber. «Das Land identifiziert sich mit dem Team, es hat ein Ziel - und es hat Spass», sagte ein Sozialforscher neulich in einem Zeitungsinterview.

Temporärer Party-Patriotismus

Allein auf der Berliner Fanmeile, dem Epizentrum der Supporter, versammelten sich für die Partie gegen Argentinien wieder 750 000 Leute. Die Fanmeile war in der Multikulti-Stadt auch sozialer Schmelztiegel. Nach dem gewonnenen Penaltyschiessen herzten sich Rentner und Enkel, leicht gekleidete Damen lagen adretten Krawattenträgern in den Armen und Punks feierten mit Leuten, die von oben bis unten Schwarz-Rot-Gold trugen.

Fussball vereinte - zumindest für einen Moment. Es geht die Angst um, nach dem 9. Juli wieder in den alten Trott zu fallen. Viele Leute, vor allem im Osten Deutschands, wissen, dass die WM die Problemzonen nur temporär überdeckt(e). «Fussball ist derzeit das einzige, was uns positiv denken lässt», sagt ein arbeitsloser Dachdecker aus Sachsen auf dem Weg zum Olympiastadion.

Bis dahin will er noch zwei Mal Teil der «schönen, friedlichen Fussballnacht» sein, wie die Polizei die rauschenden Siegesfeiern in der Hauptstadt beschrieb. Der junge Ostdeutsche wird seinen Irokesen in den deutschen Landesfarben, den andere Leute allenfalls an der Fasnacht tragen würden, am kommenden Dienstag gegen Italien wohl nochmals an die frische Luft führen, feiern und sich von den eigenen Problemen ablenken. Party-Patriotismus haben die Wissenschaftler dieses «Phänomen» getauft.

(von Stefan Baumgartner, Berlin/Si)

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