«Esäk» ist platt

Apparg geniesst es, wenn er den Hang hinunterfahren kann, ohne in die Pedalen treten zu müssen. Beim Friedrichshainpark, dort wo Oiram Apparg seit 13 Jahren lebt, ist das sehr gut möglich. Wenn es richtig schnell wird, singt er laut: «Always look on the bright side of live.»

Original kopiert aus China

Bevor Oiram Apparg morgens in den Garten geht, und «Esäk» vom Leintuch befreit, das er am Abend vorher zum Schutz drüber gezogen hat, macht er seine Morgengymnastik. Er hat es mit dem Rücken, mit 69 ist er schliesslich nicht mehr der jüngste. Danach frühstückt er ausführlich, mit Müsli und frisch gepresstem Orangensaft, ehe er seine schwarzen Radlerhosen anzieht, sein Maillot Jaune überstreift, original kopiert aus China, und «Esäk» im Garten vom Leintuch befreit.

Eigentlich möchte er heute wie jeden Vormittag ein, zwei Stunden durch Berlin radeln, die Morgensonne geniessen, um hinterher auf dem Liegesessel im Garten zu verschnaufen und die Berliner Zeitungen zu studieren. Ein Ritual, das sich seit dem Tod seiner Frau Irma so eingependelt hat.

In Chur sieht es anders aus

Heute ist das allerdings nicht möglich, denn: «Esäk» ist platt. Sowohl vorne, als auch hinten. Oiram Apparg hat es sofort gemerkt, als er das Leintuch lüpfte. Wahrscheinlich, so denkt er, ist es gestern auf dem Weg vom Alexanderplatz zur Warschauerstrasse passiert. Dort liegen oft zerschlagene Bierflaschen oder andere spitzige Dinge auf der Strasse. Vor denen hat er viel mehr Respekt als vor den Sattelschleppern, die an ihm vorbeidonnern. An die hat er sich gewöhnt. Mit den Scherben hingegen hat er seine Mühe.

Aus Chur, wo Oiram Apparg aufgewachsen und jeweils mit dem Rad zur Schule gefahren ist, kennt er das nicht. Dort sind alle Wege gleichmässig geteert und Scherben vom Vorabend spätestens am nächsten Morgen weggeräumt.

Kiesel oder Scherbe?

In Berlin ist das anders, und Oiram Apparg weiss das auch. Dennoch schmerzt es ihn, wenn er mit «Esäk» über scheinbare Kieselsteinchen fährt, und das Klirren unter seinen Pneus verrät: Es war kein Steinchen sondern zerbrochenes Glas. Früher konnte er noch ausweichen. Seit seiner Netzhautentzündung vor zwei Jahren kann er Kiesel und Scherbe aber nicht mehr unterscheiden.

Nun steht Oiram Apparg vor «Esäk», legt seine Hand väterlich auf die Lenkstange und murmelt etwas davon, daß er heute direkt zum Zeitungslesen in den Garten geht. «Esäk» will er, entgegen seinen Prinzipien, später reparieren. Denn bevor Oiram Apparg heute irgendwo wieder Luft reinlassen kann, muss er selber etwas Luft ablassen.

Was diese Geschichte mit der WM zu tun hat? Gar nichts. Aber das ist zwischendurch auch mal ganz gut.

(Romano Paganini/news.ch)