Gini als soziales Ausrufzeichen

publiziert: Dienstag, 5. Feb 2013 / 15:30 Uhr
Besorgniserregende Blaufärbung: China steht beim Gini-Index gar nicht gut da...
Besorgniserregende Blaufärbung: China steht beim Gini-Index gar nicht gut da...

Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land ist seit über zehn Jahren ein Dauerthema in China. Trotz oder gerade wegen des rasanten Wirtschaftswachstums. So will denn – kaum verwunderlich – auch der neue Parteichef Xi Jinping die Einebnung des Wohlstandsgrabens mit hoher Priorität behandeln. Chinas Nationales Bureau für Statistik setzte dabei – oh Gini! – ein klares Ausrufzeichen.

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«Reich sein ist glorreich» – das verkündete vor über drei Jahrzehnten der grosse Revolutionär und Reform-Architekt Deng Xiaoping. Viele haben das wörtlich genommen und haben nach den egalitären Mao-Jahren hart gearbeitet, viel gelernt, waren kreativ und weitsichtig sowohl als Unternehmer als auch als Händler, genausogut wie als Wissenschafter, Angestellte, Beamte oder Arbeiter. Viele verdienten, verglichen mit früher, gut. Wenige verdienten sich gar eine goldene Nase und wurden reich, einige davon sehr reich. Von den weltweit 1'250 Dollar-Milliardären leben heute rund 300 und von den zehn Millionen Dollar-Millionären rund eine Million in der Volksrepublik China.

Zu Beginn der Reform 1979 hoffte Deng also nicht ganz zu unrecht, dass bei einer solch dynamischen Wirtschaftsentwicklung der wachsende Wohlstand von oben nach unten durchsickern werde. Das ist in nicht geringem Umfang auch geschehen. Den Chinesinnen und Chinesen geht es heute so gut wie noch nie in ihrer dreitausendjährigen Geschichte. Die Armut ist zwar noch nicht besiegt, aber entscheidend eingedämmt worden. Das Engelsche Gesetz beispielshalber zeigt für China, dass mit den steigenden Einkommen – vor allem in den Städten, aber auch auf dem Land – der Anteil, der für Lebensmittel ausgegeben wird, deutlich gesunken ist.

Warum also das Wehklagen über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, zwischen dem entwickelten, reichen Küstengürtel und den rückständigen inneren Provinzen? Es ist ja keineswegs so, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Der Abstand jedoch nimmt zu. Je grösser der Graben, so die historische Erfahrung, desto wahrscheinlicher soziale Unruhen, Revolten und gewaltsamer Widerspruch. Nichts fürchteten schon die Kaiser mehr als Luan, das Chaos. Das Mandat des Himmels, also die Macht, geriet dadurch in Gefahr.

Chaos birgt im modernen Staat nach der Überzeugung von Reform-Übervater Deng Xiaoping aber auch eine andere Gefahr: Ohne politische und soziale Stabilität gibt es keine gedeihliche Wirtschaftsentwicklung und ohne Wirtschaftsentwicklung keinen Wohlstand für die Massen. Das war auch der Grund, warum Deng die Studenten- und Arbeiterrevolte auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen 1989 als Chaos interpretierte und Manu Militari niederschlagen liess.

Bereits vor 2'500 Jahren hat der chinesische Vordenker Meister Kong – im Westen besser bekannt als Konfuzius – folgende warnende Worte an seinen Fürsten gerichtet: «Ein Herrscher ist nicht beunruhigt, wenn das Volk arm ist, sondern wenn der Wohlstand ungleich verteilt ist». Deng selbst wurde zu Beginn der Reform noch deutlicher: «Falls unsere Reform zur Polarisierung der Einkommens-Verteilung führen sollte, würde das das Scheitern der Reform bedeuten».

Die Ungleichheit treibt den neuen Parteichef Xi Jinping am Anfang seiner zehnjährigen Herrschaft – die Worte von Konfuzius und Deng im Ohr – noch weit mehr um, als einst Vorgänger Hu Jintao, Parteichef von 2002 bis 2012. Trotz allen Bemühungen – zum Beispiel Abschaffung der Agrarsteuer und Lockerung des rigiden Niederlassungsregimes (Hukou) für Bauern – ist der Wohlstandsabstand zwischen Städtern und Bauern in den letzten zehn Jahren grösser geworden. Je nach Statistik und politischer Leseart ist das verfügbare Einkommen in den Städten heute zweieinhalb- bis fünfmal so gross wie jenes auf dem Lande.

Wie besorgt die neue Parteiführung ist, zeigt eine Zahl, die jetzt zum erstenmal wieder nach zwölf Jahren vom Nationalen Statistischen Büro (NBS) veröffentlicht worden ist. Es handelt sich um den Gini-Koeffizienten. Es ist ein statistisches Mass, das vom italienischen Statistiker, Soziologen und Demographen Corrado Gini entwickelt worden ist. Gini war ein führender faschistischer Theoretiker und Ideologe und leitete Ende der 1920er und anfangs der 1930er Jahre das Zentrale Institut für Statistik in Rom. Statistik war ihm jedoch wichtiger als Ideologie. 1932 trat er als Chefstatistiker Italiens zurück aus Protest gegen die Einmischung von Mussolinis faschistischem Staat in seine wissenschaftliche Arbeit.

Bis auf den heutigen Tag ist deshalb Corrado Gini nicht als faschistischer Ideologe («Theorie des Faschismus», 1927 veröffentlicht) bekannt, sondern wegen seinem Index oder Koeffizienten, der Gleichheit und Ungleichheit in einem Land bei der Verteilung von Vermögen und Einkommen misst. Auf einer Skala von Null bis Eins bedeutet 0 absolute Gleicheit und 1 absolute Ungleichheit. Nach übereinstimmender Meinung der meisten Ökonomen müssten ab einem Gini-Koeffizienten von 0,4 bei den Regierenden alle Alarmlichter grell-rot aufleuchten.

Das NBS veröffentlichte nun einen für China wahrlich alarmierenden Gini-Index von 0,474. Die Südwest-Universität in Chengdu kam für das Jahr 2010 sogar auf 0,61. Zum Vergleich: Russland und die USA stehen nicht sehr viel besser da als China, während die Europäische Union mit Ginis von 0,25 bis 0,31 glänzt. Auch die Schweiz kann sich – Abzocker hin, Abzocker her – mit 0,29 durchaus sehen lassen. Obwohl Chinas Wohlstand in den über dreissig Reform-Jahren massiv gestiegen ist, bleibt also die ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen eine grosse Sorge für die Führung. Zehn Prozent der chinesischen Haushalte verfügen über 80 Prozent aller Vermögen.

Das Thema der sozialen Ungleichheit ist auch ein Dauerthema in den Medien. Noch viel engagierter äussern sich, trotz Zensur, viele Blogger auf dem Twitter-ähnlichen Portal Sina Weibo etwa. Das sind klare Warnsignale, die im Partei- und Regierungszentrum Zhongnanhai, der neuen «Verbotenen Stadt» im Zentrum Pekings, sehr ernst genommen werden.

Dass der Gini-Koeffizient jetzt nach so langer Zeit wieder veröffentlicht worden ist, deutet darauf hin, dass Parteichef Xi Jinping gleich zu Beginn seiner Amtszeit Nägel mit Köpfen machen und konkret etwas gegen die wachsende Kluft von Arm und Reich unternehmen will. Der Direktor des Nationalen Statistischen Bureaus, Ma Jiantong, brachte es auf den Punkt: «Einerseits müssen wir den Kuchen grösser machen, andrerseits müssen wir den Kuchen besser verteilen». Das zu erreichen, kommt der Quadratur des Kreises gleich.

Politisch ist die Aufgabe auch deshalb delikat, weil es innerhalb der allmächtigen Kommunistischen Partei fast zu gleichen Teilen Anhänger mit Priorität für eine Vergrösserung des Kuchens gibt und Befürworter, die zunächst eine gerechtere Verteilung anstreben. Beide Ziele zur gleichen Zeit zu erreichen, halten ausländische wie chinesische Ökonomen für unmöglich.

Bei einer umfassenden Reform müsste die neue Führung auch gegen alt eingefleischte Interessen vorgehen, also gegen die Vertreter der grossen Staatsbetriebe, der Provinz- und Lokalregierungen, gegen die Reichen und Superreichen, schliesslich auch gegen die Privilegien der sogenannten Princelings, den Söhnen alter Revolutionäre. Im Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem obersten Machtorgan Chinas, sind vier der sieben Mitglieder Princelings. Allen voran Parteichef Xi Jinping.

Bereits in den 1980er Jahren äusserte Chen Yun, damals als enger Verbündeter von Deng Xiaoping für die Wirtschaft verantwortlich, die wahrlich prophetischen Worte: «Das Land unter dem Himmel sollte eines Tages den Princelings übergeben werden. Den Princelings können wir vertrauen, dass sie nicht das Grab für die Partei schaufeln werden». Genau das ist am 18. Parteitag im letzten November passiert. Doch vielleicht ist Parteichef Xi Jinping dank Corrado Gini heute klüger als es Chen Yun damals für möglich gehalten hätte. Trotz den sozialen Medien ist vorerst das «Mandat des Himmels» noch nicht in Gefahr.

(Peter Achten/news.ch)

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