Witterungsbedingte Verschiebungen können auch etwas Gutes an
sich haben: Der erstmals seit 1922 wieder vollumfänglich an einem
Montag gespielte Männer-Final wird als einer der emotionalsten und
stimmungsvollsten in die Geschichte eingehen. Die 10 000 Tickets,
die gestern Morgen in den freien Verkauf gelangten, schienen
praktisch allesamt kroatische und australische Fans erstanden zu
haben. So machte sich im Centre Court eine Ambiance breit, wie sie
in England normalerweise nur bei Fussballspielen miterlebt werden
kann. So viele australische Flaggen, Kängurus aus Stoff und
Plastik, Transparente und in kroatische Fussballleibchen gekleidete
Zuschauer waren zuvor auf dem grössten Platz an der Church Road mit
Sicherheit noch nie gesichtet worden.
Von 125 unter die Top 30
Der Rahmen war dem Ereignis angepasst, denn Ivanisevics
Titelgewinn hört sich an wie ein Märchen. Wegen Problemen mit
seiner linken Schulter, die er auch im gestrigen Final zweimal vom
Physiotherapeuten behandeln liess, war Ivanisevic am Ende der
letzten Saison in der Weltrangliste auf den 129. Platz abgerutscht.
Vor Beginn des Wimbledon-Turniers lag er an 125. Stelle und war auf
eine Wild Card angewiesen, um nicht die Qualifikation bestreiten zu
müssen. Diese unbefriedigende Situation wird für Ivanisevic nun
wieder der Vergangenheit angehören; im neuen Ranking wird er rund
100 Plätze gutmachen und in die Region um Rang 25 vorstossen.
Wegen den anhaltenden Schulterschmerzen blieben die Erfolge auch
in diesem Jahr aus. Ein einziges Mal, Anfang Februar in Mailand,
stand er in einem Viertelfinal, den er gegen Roger Federer verlor.
Selbst kurz vor Beginn des Wimbledon-Turniers hatte Ivanisevic noch
nicht aus dem Tief heraus gefunden; in Queen's war er wie bei vier
vorangegangenen Turnieren in der ersten Runde ausgeschieden, in 's-
Hertogenbosch kam das Aus in Runde 2. Wie in Wimbledon fand er bei
weiteren neun Turnieren nur dank Wild Cards Unterschlupf im
Hauptfeld. In Wimbledon war sich Ivanisevic nicht zu schade, die
Organisatoren um eine «Freikarte» zu bitten.
Die Vorentscheidung zum 6:3, 3:6, 6:3, 2:6, 9:7 führte
Ivanisevic im zweitletzten Game herbei, als er Rafter mit dem
allerersten Breakball des gesamten fünften Satzes den Aufschlag
abnahm. Er machte es dann noch einmal spannend. Die ersten zwei
Matchbälle vergab er mit Doppelfehlern, bevor er seine vierte
Möglichkeit nach drei Stunden und einer Minute nutzte. Rafter
verlor damit auch seinen zweiten Wimbledon-Final; im vergangenen
Jahr war er Pete Sampras unterlegen.
Sieg dem Basketballer Petrovic gewidmet
«Ich denke, ich träume. Jemand muss mich aufwecken und mir
sagen, dass ich wirklich gewonnen habe», sagte Ivanisevic, «es ist
einfach grossartig. Endlich konnte ich diese Trophäe in den Händen
halten. Ich wollte nicht immer nur Zweiter sein.» Die Worte des 29-
Jährigen sind verständlich, denn sowohl 1992 gegen Andre Agassi als
auch 1994 und 1998 gegen Pete Sampras hatte er den Centre Court als
Final-Verlierer verlassen müssen. «Ein viertes Mal konnte ich dies
meinem Vater nicht zumuten. Sein Herz hätte dies sicher nicht
ausgehalten.» Den Sieg widmete Ivanisevic dem Basketballer Dragan
Petrovic, der 1993 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
«Bei seiner Beerdigung habe ich dies versprochen. Dragan war ein
sehr guter Freund von mir.»
Ivanisevic ist nicht nur der erste Wild-Card-Spieler, der ein
Grand-Slam-Turnier gewinnt, sondern auch der erste Kroate. Bei den
Frauen hatte dies Iva Majoli 1997 beim French Open mit einem
Finalsieg gegen Martina Hingis geschafft. Standesgemäss wird der
Empfang heute Dienstag in der Heimat ausfallen. «In meiner
Heimatstadt Split werden wohl 100 000 bis 150 000 Leute anwesend
sein. Dies wird sicherlich eines der grössten Tage in der
Geschichte Kroatiens», freute sich Ivanisevic.
Ass-Rekord
Als Nummer 125 der Welt ist Ivanisevic hinter Mark Edmondson der
am zweitschlechtesten klassierte Grand-Slam-Sieger. Der Australier
hatte 1976 das Australian Open als Nummer 212 der Welt gewonnen.
Einen Rekord hat Ivanisevic gestern doch noch verbessert. Mit
seinen 27 Assen im Final steigerte er sein diesjähriges Wimbledon-
Total auf 213 Asse. Damit übertraf er seine eigene Bestmarke bei
diesem Turnier, die er seit 1992 mit 206 Assen gehalten hatte.
(sda)