Kirgistan: Ethnischer Konflikt nur vorgeschoben

publiziert: Montag, 5. Jul 2010 / 23:36 Uhr / aktualisiert: Montag, 5. Jul 2010 / 23:57 Uhr
Kirgistan ist ein Vielvölkerstaat, doch leidet das Land in erster Linie ökonomisch.
Kirgistan ist ein Vielvölkerstaat, doch leidet das Land in erster Linie ökonomisch.

Berlin - Die Lage in Kirgistan verschärft sich nur unnötig, wenn Politiker und Medien die jüngsten Konflikte in der Ex-Sowjetrepublik vereinfacht als Auseinandersetzung von Volksgruppen darstellen.

6 Meldungen im Zusammenhang
 Das betont Sophie Roche, Ethnologin am Zentrum Moderner Orient. «Man wird der Situation viel eher gerecht, wenn man die Spannungen als Folge der wachsenden Bevölkerung, der Jugendarbeitslosigkeit oder des Ressourcenkampfes ansieht. Die Ethnisierung, die die Medien betreiben, schaukelt die Lage nur auf und verhindert Frieden», so die Forscherin im Interview.

Putsch und Referendum

Das Gebirgsland Kirgistan zwischen Kasachstan und China kommt seit April dieses Jahres nicht zur Ruhe. Damals wurde Präsident Kurmanbek Bakijew gestürzt, dessen autoritärer Führungsstil immer mehr in Richtung Militärdiktatur tendierte und der mit seiner Finanz- und Sozialpolitik die Armut des Landes schürte. In der Vorbereitung für eine Volksabstimmung artete am 10. Juni eine Massenschlägerei von Jugendlichen zu Unruhen aus, die Agenturberichten zufolge 2000 Menschen das Leben kosteten und bis zu 500'000 Menschen in die Flucht trieben.

Das Referendum konnte jedoch abgehalten werden und lieferte in der Vorwoche eine 90-prozentige Zustimmung für eine neue demokratische Verfassung. Damit könnte Kirgistan zur ersten parlamentarischen Republik in Zentralasien werden. Die Unruhen dauern jedoch besonders im Süden des Landes an. Ein Militärbündnis unter russischer Führung hat Spezialkräfte als Berater in der Region stationiert und auch die OSZE überlegt die Entsendung von 100 Polizisten. Mindestens bis 10. August wird ein derzeitiger Ausnahmezustand noch andauern.

Vielvölkerstaat am Scheidepunkt

Die 5,5 Mio. Einwohner Kirgistans gehören vielen ethnischen Gruppen an, wobei ausser der kirgisischen Mehrheit vor allem Usbeken aber auch Russen, Dunganen, Uiguren und eine Vielzahl weiterer Völker vertreten sind. «Die ethnische Identität spielte in der Vorsowjetzeit nur eine geringe Rolle. Die Grenzziehung der Staaten in den 1920ern und 30ern fixierte dann ethnische Zugehörigkeit mit nationalen Strukturen», so Roche. Das Ferghana Tal wurde zwischen diesen Staaten wie ein Flickenteppich aufgeteilt, wobei viele ethnische Gruppen nicht in ihrer Titularnation, sondern als Minderheiten im benachbarten Land siedelten.

Das frühere Nebeneinander der Kulturen zeigte sich darin, dass jeder mindestens zwei Sprachen beherrschte. Ethnische Zugehörigkeit bedeutete oft eigene kulturelle Eigenheiten und die Besetzung einer bestimmten wirtschaftlichen Nische. So waren etwa Usbeken als erfolgreiche Händler bekannt. «Das ist ein Grund, warum der Bazar der Stadt Osh in den Juniunruhen weitgehend zerstört wurde. Wo Unterschiede kultiviert werden, können sie auch mobilisiert werden», erklärt die Expertin.

Der Fokus auf die Ethnien ist angesichts der komplexen Probleme viel zu einfach gestrickt, betont die Zentralasien-Expertin. Entscheidend sei eher das Problem der Verteilung der Bodenschätze des Landes, das Mitmischen krimineller Organisationen und ungelöste Probleme der Jugendgeneration.

«Die bewohnbaren Gebiete des Gebirgslandes sind seit Jahrhunderten dichter besiedelt als die umliegenden Gebiete. Der demografische Druck wuchs durch die hohe Geburtenrate während der Sowjetzeit, das Land wird knapp und die Arbeitslosigkeit steigt enorm. Diese Dynamik dürfte wie schon 1990 auch die aktuellen Konflikte bestimmt haben, auch wenn der Ausgangpunkt politisch motiviert war.»

Hoffnung auf Frieden lebt

Die Stimmungslage in einem Grossteil der Bevölkerung sei derzeit jedoch positiv, habe sich die Zukunftshoffnung doch mit dem Referendum bestätigt. Am vorgestrigen Samstag wurde schliesslich Rosa Otunbajewa, bisherige Leiterin der Übergangsregierung, als provisorisches Staatsoberhaupt vereidigt. «Inmitten vieler 'failed states' der Region sehen viele Kirgistan ihr Land als Hoffnungsträger, in dem ein parlamentarisches System Frieden bringen kann», so Roche. Deutliche Zeichen gegen eine Ethnisierung des Konflikts seien weiterhin die vielen Mischehen zwischen Angehörigen verschiedener Bevölkerungsteile, zudem gebe es «viele positive Kräfte» im Land.

Als wünschenswert bezeichnet die Expertin, wenn das eigene Militär die Menschen beschützen und den Überschlag des Konflikts in andere Landesregionen verhindern könnte. «Ein Auskommen ohne Hilfe von Aussen wird jedoch immer unwahrscheinlicher.»

(fest/pte)

Kommentieren Sie jetzt diese news.ch - Meldung.
Lesen Sie hier mehr zum Thema
Bischkek - Sechs Monate nach dem Sturz des autoritären Präsidenten Kurmanbek Bakijew ist in Kirgistan ohne Zwischenfälle ein neues Parlament gewählt worden. Erstmals entscheide sich ein Land in Zentralasien für eine parlamentarische Demokratie. mehr lesen 
Der UNO-Sicherheitsrat ruft zur friedlichen Beilegung des Konflikts in Kirgistan auf.
New York - Angesichts der Flucht Zehntausender aus Kirgistan haben das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ... mehr lesen
Osch - Mehr als 120 Tote, vielleicht ... mehr lesen
Russisches Militär soll eingreifen.
In Osch, der zweitgrössten kirgisischen Stadt, gab es schwere Unruhen. (Archivbild)
Osch - In Kirgistan eskaliert die ... mehr lesen
Weitere Artikel im Zusammenhang
Bischkek - Kirgistan hat angesichts ... mehr lesen
Interimsregierungschefin Rosa Otunbajewa hat Russland um militärische Hilfe gebeten.
.
Digitaler Strukturwandel  Nach über 16 Jahren hat sich news.ch entschlossen, den Titel in seiner jetzigen Form einzustellen. Damit endet eine Ära medialer Pionierarbeit. mehr lesen 21
Die US-Army testet KI gesteuerte Drohnen - und wurde überrascht.
Die US-Army testet KI gesteuerte Drohnen - und wurde ...
Obwohl künstliche Intelligenz komplexe Probleme lösen kann, hat sie auch ihre Grenzen. In einem virtuellen Test des US-Militärs mit KI-gesteuerten Drohnen sollen laut einem Bericht des britischen Guardian unerwartete und tödliche Folgen aufgetreten sein. Es wird behauptet, dass die Drohne jeden attackierte, der sich einmischte. mehr lesen 
Die EU hat Meta, den Mutterkonzern von Facebook, mit einer historischen Geldbusse belegt. Der Konzern hatte wegen der fortlaufenden Übertragung von Nutzerdaten in die USA gegen die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) verstossen. Zusätzlich wurde Meta aufgefordert, den Transfer von Daten unverzüglich zu beenden. mehr lesen  
Publinews Spannende Neuigkeit aus der Welt der Elektromobilität: Der US-amerikanische Elektroautohersteller Tesla hat am vergangenen Wochenende den Bau einer neuen ... mehr lesen  
China ist der grösste Automarkt der Welt und ein wichtiger Absatzmarkt für Tesla.
Die G20-Staatschefs auf dem «Familienfoto» in Indonesien 2022.
Publinews Während die Politiker über Klimaschutz reden, nehmen sie selbst immer noch an vielen Flugreisen teil, was zu einer hohen ... mehr lesen  
Titel Forum Teaser
  • keinschaf aus Wladiwostok 2826
    belustigend peinlich Das kommt schon fast in die Nähe der Verwechslung von Oekonomie mit ... Mi, 28.12.16 01:21
  • Unwichtiger aus Zürich 11
    Grammatik? Wie kann Stoltenberg denn Heute schon wissen, welche Entscheidungen am ... Sa, 22.10.16 10:59
  • Kassandra aus Frauenfeld 1781
    Der phallophile Blick eines cerebrophoben Schäfleins! Frau Stämpfli schrieb am Ende ... Mo, 26.09.16 17:32
  • keinschaf aus Wladiwostok 2826
    phallophobe Geschichtsrückblicke "Und die grösste Denkerin des 21. Jahrhunderts? Verdient ihr Geld mit ... Sa, 13.08.16 17:48
  • Kassandra aus Frauenfeld 1781
    Alle Demonstranten gefilmt. Der Erdogan lässt doch keine Domo gegen sich zu! Die ... Di, 21.06.16 16:42
  • Kassandra aus Frauenfeld 1781
    Konzernrecht? Konzernpfusch! Was ist denn das? Konzerne werden vorwiegend von Vollidioten geführt. ... Fr, 10.06.16 17:49
  • Kassandra aus Frauenfeld 1781
    Das wird die Deutschen aber traurig machen. Wenn man keinen Flughafen und keinen Bahnhof ... Mi, 08.06.16 17:49
  • zombie1969 aus Frauenfeld 3945
    Der... Daesh (IS) kommt immer mehr unter Druck. Davon sind inzwischen auch ... Do, 02.06.16 19:22
Jonathan Mann moderiert auf CNN International immer samstags, um 20.00 Uhr, die US- Politsendung Political Mann.
CNN-News Was würde «Präsident Trump» tatsächlich bedeuten? Noch ist absolut nichts sicher, doch es ...
 
Stellenmarkt.ch
Kreditrechner
Wunschkredit in CHF
wetter.ch
Heute So Mo
Zürich 14°C 28°C recht sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig recht sonnig sonnig
Basel 15°C 30°C recht sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig recht sonnig sonnig
St. Gallen 13°C 25°C recht sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig recht sonnig recht sonnig
Bern 14°C 26°C freundlichleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig recht sonnig recht sonnig
Luzern 15°C 28°C sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig recht sonnig recht sonnig
Genf 17°C 24°C wechselnd bewölkt, Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wolkig, aber kaum Regen recht sonnig
Lugano 16°C 26°C gewitterhaftleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig vereinzelte Gewitter vereinzelte Gewitter
mehr Wetter von über 8 Millionen Orten