Moritz Leuenberger: «Ich wollte nicht auf das Rütli»
«Zuallererst möchte ich mich dafür bedanken, dass ich Euer Gast sein darf. Bei den meisten 1. Augustfeiern gibt es nämlich gar keine Rede.»
«Sagen wir es offen, manchmal ist es gemütlicher ohne Rede. Sie soll auf jeden Fall nicht im Mittelpunkt der Feier stehen. Im Mittelpunkt steht die Gemeinsamkeit von uns allen, die wir den 1. August feiern.
Die Gemeinsamkeit von Kindern und Erwachsenen, die Gemeinsamkeit der verschiedenen Dörfer des Centovalli, welche die heutige Feier organisieren, die Gemeinsamkeit von Leuten, die hier wohnen, und den Touristen, die hier in die Ferien kommen.
Ich möchte mich bedanken, dass ich an dieser Feier teilnehmen darf, denn das ist nicht ganz selbstverständlich. Es war ganz ein wenig eine Selbsteinladung. Ich habe, wie immer für den 1. August, einige Einladungen erhalten, aber ich wollte ganz bewusst nach Palagnedra kommen und ich will auch ganz gerne erklären warum.
Ich bin lieber an einem Ort, wo alle kommen können und nicht Eintrittskarten verlost werden müssen.
Ich wurde gefragt, ob ich nicht auch auf das Rütli komme. Nein, ich wollte nicht auf das Rütli. Ich bin lieber an einem Ort, wo alle kommen können und nicht Eintrittskarten verlost werden müssen. Ich komme lieber an einen Ort, wo es nicht interkantonale Verhandlungen für die Feier benötigt. Ich komme lieber an eine Feier, die nicht ein Uhrenindustrieller sponsern muss, damit die Sicherheit gewährleistet ist. Ich komme lieber an einen Ort, wo es keine Bodyguards braucht.
Gewiss, das Rütli hat eine symbolische Bedeutung für unser Land. Ich habe als Bundespräsident meinen Gast Vaclav Havel dorthin geführt. Dennoch ist das Rütli nicht das exklusive Zentrum für Schweizerischen Patriotismus, obwohl jetzt die meisten Journalisten und Fernsehstationen mit ihren Kameras über den Vierwaldstättersee zur gleichen Wiese pilgern, alle in der Hoffnung, es ergebe sich etwas Aussergewöhnliches für süffige Schlagzeilen oder Bilder.
Das Wesen des 1. August besteht nicht in einer nationalen Zentralfeier, sondern in der Vielfalt. In Hunderten von Dörfern wird heute gefeiert, und jedes Dorf tut es auf seine Weise, in seiner eigenen Tradition. Und doch feiern sie im Grunde alle dasselbe: das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Kulturen in unserem Land. Diese Dorffeiern haben viel mehr mit dem Wesen der Schweiz zu tun als der laute Rummelplatz auf dem Rütli.
Eine 1.-August-Feier am Nachmittag ist wie Weihnachten im Sommer.
Ich wurde gefragt, ob ich nicht an eine Feier wolle, die am Nachmittag durchgeführt wird, damit ich in der Tagesschau komme. Nein, ein Bundesrat soll sich nicht immer nur nach der Uhr der Medien richten, sondern auch einmal nach dem traditionellen Rhythmus einer Dorfgemeinschaft.
Das Leben spielt sich nicht nur dort ab, wo die Fernsehkameras stehen, sondern an allen Orten, an denen Menschen zusammenkommen, um an der Gemeinschaft teilzuhaben. Den 1. August feiern wir am Abend mit Lampions und Höhenfeuer. Als Kind habe ich den 1. August so sehr geliebt, weil ich dank der Feier viel länger aufbleiben durfte als sonst. Der 1. August ist doch kein Nachmittagsteekränzchen. Eine 1.-August-Feier am Nachmittag ist wie Weihnachten im Sommer.
Ich wurde für Auftritte in der Deutschschweiz und in der Romandie gefragt. Dann habe ich gesehen, dass kein einziger Bundesrat in der italienischsprachigen Schweiz spricht. Die Schweiz besteht aus vier Sprachregionen und das wollen wir pflegen.
Auch wenn ich keinen Helikopter benutze, so bin ich natürlich trotzdem ein Tourist.
Ich wurde gefragt, ob ich nicht an mehreren Orten sprechen könne. Ich solle doch den Helikopter nehmen, andere Bundesräte würden das auch tun. Es gibt Helikopter, die sind richtig politisch: Sie machen viel Lärm, wirbeln Staub auf und verschwinden wieder.
Ich suche lieber die Ruhe, ich bin deswegen schon am Nachmittag gekommen, um mit Jürg Zbinden und dem Gemeinderat Bordei zu besuchen und ich habe vieles gelernt. Auch wenn ich keinen Helikopter benutze, so bin ich natürlich trotzdem ein Tourist. Ich bin nicht der einzige. 11 Millionen Touristen kommen jährlich in den Tessin, einige davon ins Centovalli.
Das war nicht immer so. Ich kann mich erinnern, wie wir in der Schule über das Tessin informiert und für eine Reise über den Gotthard vorbereitet wurden. Das galt als eine richtige und gefährliche Expedition. Als Kind war das Tessin für mich eine exotische Wildnis. Um in die Südschweiz zu gelangen musste man sich durch den ewigen Schnee auf dem Gotthard kämpfen und auf der anderen Seite steile Geröllhalden und Schluchten auf schmalen Maultierpfaden hinunterkraxeln. In der heissen Ebene angekommen, galt es, giftige Schlangen und Skorpione zu besiegen, die hinter jedem Stein lauerten. Man musste Impfstoffe mitnehmen und den Rucksack mit Medikamenten vollpacken. Die Gefahr war allgegenwärtig, so belehrte mich die Literatur, die wir in der Schule lesen mussten.
Die Reise in den Tessin ist heute kurz geworden. Während des Filmfestivals hat es mehr Zürcher in Locarno als Zürich Einwohner hat. Was die wenigsten von ihnen wissen: Sie können auf der Piazza die Filme nur dank dem Stausee von Palagnedra sehen. Ohne Palagnedra kein Filmfestival. Palagnedra ist die Steckdose für den Dolby Stereo Sound. Es liefert den Strom, damit in Locarno die Nacht zum Tag werden kann. Es braucht eben die Peripherie, damit es im Zentrum leuchten kann.
Wo nur noch Wald und keine Kultur mehr ist, will niemand mehr hin.
Tourismus sichert einigen Menschen in diesem Tal das Überleben. So, wie die Peripherie auf das Zentrum angewiesen ist, so braucht auch das Zentrum die Peripherie zum Überleben. Wo immer ich in den Bergen bin, treffe ich auf Menschen aus den Städten und Agglomerationen, die sich hier erholen und Kraft tanken in der intakten Natur. Die Berge sind für sie Symbole der Ruhe und der Ort, wo die Zeit zahmer ist als in den Städten und wo das kulturelle Erbe sorgfältiger gepflegt wird. Dabei vergessen sie oft, dass diese Berggebiete bewirtschaftet und gepflegt werden müssen. Wo nur noch Wald und keine Kultur mehr ist, will niemand mehr hin.
Ein paar Kilometer von hier entfernt ist in den letzten 40 Jahren eines der nachhaltigsten Projekte entstanden, die ich kenne. Jürg Zbinden hat mit vielen Jugendlichen zusammen ein zerfallendes Tessiner Dorf mit einer Sorgfalt zu neuem Leben erweckt, die ich nur bewundern kann. So entdeckt manch verdutzter Wanderer in diesem abgelegenen Winkel das vielleicht schönste Tessiner Dorf überhaupt. Es ist der Tourismus, der heute neues Leben in dieses Dorf und die wunderbare Osteria bringt. Und ohne den damaligen Touristen Zbinden, den ein paar Bilder in einem Heft angelockt hatten, würden heute in Bordei wohl nur noch ein paar Eidechsen in den Mauerresten hausen.
Für nachhaltigen Tourismus braucht es eben auch Touristen.
Für nachhaltigen Tourismus braucht es eben auch Touristen, die die Geschichte der Gegend kennen lernen wollen, welche die Menschen und ihre Nöte begreifen wollen. Ich habe vieles gelernt über das Centovalli, als ich mich vorbereitet habe.
Die Schriftstellerin Aline Valangin beschreibt in ihren beiden Romanen «Die Bargada» und «Dorf an der Grenze», wie das Leben hier im Centovalli und im Onsernonetal in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war. Sie berichtet davon, wie Männer aus den Dörfern jahrzehntelang Kaffee und Zigaretten, aber auch Stoff und Schreibmaschinen auf verschlungenen Pfaden über die Grenze geschmuggelt haben, um ihre Familien ernähren zu können.
Sie beschreibt, wie froh diese Männer waren, als hier in Palagnedra der Staudamm gebaut wurde, weil es endlich eine legale Arbeit für die Vigezzini gab. Und sie schildert, wie während des Krieges halbverhungerte und verzweifelte Flüchtlinge über die Grenze geschleust wurden; oft mit Hilfe des Bahnhofvorstandes von Camedo, der direkt an der Grenze wohnte. Einmal retteten sich 256 italienische Partisanen vor deutschen Soldaten in die Schweiz, die ihnen noch über die Grenze hinweg nachschossen.
• Es ist gut, wenn wir dies heute wissen, wenn wir mit dem Auto oder dem Centovalli-Bähnchen bequem über die Grenze fahren und kaum mehr kontrolliert werden.
• Es ist gut zu wissen, was eine Landesgrenze einst bedeutet hat, als es noch keine EU gab, wenn wir heute als Wanderer gar nicht recht merken, ob wir uns nun gerade in Italien oder in der Schweiz befinden.
• Es ist gut zu wissen, warum Menschen damals diese Gegend aufsuchten, nämlich weil sie um ihr Leben fürchteten. Wer heute hierher kommt, tut dies nicht mehr, weil er um sein Leben fürchtet, sondern weil er die Schönheit dieser Landschaft bewundert und in diesem wilden Tal erholen will.
Es sind heute nicht mehr Armut und Krieg, die ihr Dorf bedrohen, sondern die Abwanderung. Die jungen Menschen verlassen die Gegend, um sich an anderen Orten ausbilden zu lassen, zu studieren und zu arbeiten. Oft bleiben sie an diesen Orten hängen und kehren nicht mehr zurück – oder nur noch in den Ferien. Das ist ein Problem der Peripherie und dieses Problem geht die ganze Schweiz etwas an.
Es darf in der Schweiz keine vernachlässigten Peripherien geben.
Avenir Suisse, die Denkfabrik der grossen Schweizer Unternehmen, nennt Gebiete wie das Centovalli Randregionen und sie schlägt vor, diese «würdevoll zu entvölkern» und sich selber zu überlassen. Sie seien zu teuer. So könne sich die Schweiz auf die wirtschaftlich starken Agglomerationen konzentrieren.
Nachhaltigkeit heisst auch, die soziale Kohäsion unseres Landes zu stärken. Ich sage es klar und deutlich, ich sage es im Namen des gesamten Bundesrates: Diese Vision von avenir suisse ist nicht die Zukunft der Schweiz und sie wird es nie sein. Sie würde das Ende der Schweiz bedeuten. Der Zusammenhalt und die Solidarität all unserer Landesteile und Regionen ist eine der tragenden Säulen unseres Staatswesens.
Es darf in der Schweiz keine vernachlässigten Peripherien geben. Deswegen ist die Grundversorgung, der service public, die wichtigste Infrastruktur unseres Landes.
Die Grundversorgung muss auch in den weniger dicht besiedelten Regionen gewährleistet sein, damit diese gleichberechtigte Teile der Schweiz bleiben. Der Kampf um diese Grundversorgung ist ein ewiger politischer Kampf, aber es ist ein Kampf, den wir für das Selbstverständnis unserer Schweiz führen.
Als Einwohner von Palagnedra und den anderen Gemeinden hier im Centovalli wissen Sie, was es heisst, an der Peripherie zu leben. Sie sind darauf angewiesen,
• dass die solidarische Schweiz weiter besteht,
• dass die Strassen in ihr Dorf unterhalten werden,
• dass Sie auch hier im Centovalli einen schnellen Internetanschluss haben,
• dass es auch weiterhin eine Poststelle in der Nähe gibt.
Ich weiss: Heute ist die nächste Poststelle in Camedo, vom Bahnhof fährt kein Postauto mehr ins Dorf und die Strasse nach Bordei hinauf braucht auch wieder einmal eine Verjüngungskur.
Und dennoch ist die Grundversorgung gewährleistet.
Der Pöstler bringt Ihnen die Post und nimmt Einzahlungen entgegen, Sie haben Internet und Sie haben eine wunderbare Website. Der Zug fährt auch dann im Takt durchs Tal, wenn es einmal regnet und keine Touristen darin sitzen. Wir sind uns einig, weniger darf es nicht werden, sonst verpassen Sie den Anschluss an den Rest der Schweiz.
Das bedeutet auch, dass wir mit einem einzigen Tunnel ein kleines Wunder vollbringen.
Nicht nur ihr Tal, jede Region ist auf die Solidarität der anderen angewiesen. Wir bauen die NEAT ja nicht nur, damit die Güter möglichst schnell und sauber durch unser Land transportiert werden können. Wir bauen sie auch, damit das Wallis und das Tessin besser ans Mittelland angebunden werden. In Zürich fordern nun einige, dass wir auf den Ceneri-Basistunnel verzichten und stattdessen den Zimmerbergtunnel bauen.
Das bringe der Wirtschaftsmetropole mehr. Sie übersehen, dass wir die NEAT nicht nur deshalb bauen, damit die beiden Zentren Mailand und Zürich schneller miteinander verbunden sind. Wir beschlossen sie auch, um Regionen in der Schweiz einander näher zu bringen. Mit dem Ceneri erhält das ganze Südtessin eine schnellere Verbindung zur Alpennordseite.
Das bedeutet auch, dass wir mit einem einzigen Tunnel ein kleines Wunder vollbringen und zwei verschiedene Völker miteinander vereinigen können: die Menschen vom Sopraceneri und die völlig anderen Menschen aus dem Sottoceneri.
Diese Solidarität zwischen den Regionen müssen wir heute in Erinnerung rufen. Im Namen der Freiheit und des Wettbewerbs duellieren sich die Kantone zunehmend in einem fiebrigen und ruinösen Steuerwettbewerb. Dies hat gravierende Folgen: In den Steuerkassen fehlt das Geld, um die Infrastrukturen zu erstellen und zu unterhalten. Infrastrukturen brauchen wir für den Ausgleich zwischen den Regionen, für die Gemeinsamkeit in unserem Lande.
Diese Gemeinsamkeit feiern wir heute, die Gemeinsamkeit von Leuten, die hier wohnen, und den Touristen, die hier in die Ferien kommen. Das zentrale Rütli hat sicher eine grosse symbolische Bedeutung für die Geschichte der alten Eidgenossenschaft. Aber Palagnedra hat eine viel grössere symbolische Bedeutung für das Schicksal der peripheren Gebiete in unserem Land, für den Zusammenhalt und für die Gemeinsamkeit, die wir heute feiern.
Sie liessen mich Palagnedra entdecken und so habe ich die Schweiz kennen gelernt. Ich danke Ihnen dafür.»
(li/pd)
- melabela aus littau 1
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