On What Matters: Zum Tod von Norbert Neininger

publiziert: Mittwoch, 3. Jun 2015 / 10:54 Uhr / aktualisiert: Mittwoch, 3. Jun 2015 / 11:44 Uhr
Norbert Neininger: Er lebt weiter durch die Erfahrungen von Zeit mit ihm, seinem Werk und Leben, die ihn mit uns heute und morgen verbinden.
Norbert Neininger: Er lebt weiter durch die Erfahrungen von Zeit mit ihm, seinem Werk und Leben, die ihn mit uns heute und morgen verbinden.

Dies ist eine besondere Kolumne. Sie handelt vom bedeutensten Moralphilosophen unserer Zeit, Derek Parfit. Der Denker, der im Philosophiemagazin «Hohe Luft» ein ausführliches Interview über sein Werk gegeben hat, kam mir beim Tod des von mir verehrten, liebevollen Mentors Norbert Neininger in den Sinn.

1 Meldung im Zusammenhang
Weiterführende Links zur Meldung:

Interview Norbert Neiningers mit der Autorin
Gespräch des Verlegers Norbert Neininger in den Schaffhauser Nachrichten mit Regula Stämpfli.
regulastaempfli.eu

Interview mit dem Philosophen Derek Parfit
Email-Interview mit Derek Parfit im «Hoheluft-Magazin».
hoheluft-magazin.de

Die Leere, die Alle ergriffen hat, die Norbert Neininger näher kannten, schätzten und - in meinem Fall - stundenlang mit ihm gelacht und unglaubliche Geschichten ausgetauscht haben, soll mit ein paar Denkansätzen aus Parfits universeller Moraltheorie, wenigstens für ein paar Momente, überbrückt werden. Norbert Neininger liebte die grossen Entwürfe und Gedanken und wir wollten uns eigentlich diesen Sommer mal länger über Parfit unterhalten. Aus dem geplanten Gespräch wird nun ein Nachruf und allein dieser Begriff schmerzt, so dass weiterschreiben gar nicht so einfach ist. Deshalb schnell zu Parfits Ansatz, so wie ich ihn verstehe.

Einer der Einwände gegen den Tod ist, dass alles vorbei ist, wenn wir sterben. Diese Annahme hängt von der fixen Idee ab, dass die Zeit, die wir als Menschen kennen, linear verläuft und nur das, was wir in der Zukunft benennen können, auch als Zukunft gilt. Derek Parfit neigt nun - wie es eigentlich seit der Relativitätstheorie nahe liegen sollte - zur Idee, dass das Verstreichen der Zeit eine Illusion ist. «Wir glauben an das Verstreichen der Zeit, wenn wir glauben, dass wir uns irgendwie durch die Zeit in die Zukunft bewegen oder dass zukünftige Ereignisse näher rücken. Nach der zeitlosen Sicht machen jedoch diese Metaphern keinen Sinn. Zeit ist dann mehr wie der Raum.»(Derek Parfit in Reasons and Persons).

Dies macht den Tod, der uns mit jedem Tag in einem fixen Zeitverständnis näher zu rücken scheint, zu einem unzeitlichen Ereignis. Denn wie die Zeit ist dann auch der Tod etwas ganz anderes als dies unser Ordnungssystem vorgibt. Der Tod ist somit immer da und nicht da. Ähnlich wie bei einem Radioprogramm auf einem alten Empfangsgerät. Da laufen auch verschiedene Programme gleichzeitig und nur, wenn wir den Knopf drehen, hören wir das andere Programm, was nicht heisst, dass das Erste aufhört zu spielen. Kurz; es geht statt um Zeit, um Raum. Aufs Leben übersetzt, bedeutet dies, dass Leben sich aus Wahrnehmungen und Erfahrungen, dem Raum und nicht der Zeit, zusammensetzt.

Derek Parfit beschreibt, dass, bevor er diese Zeitlosigkeit entdeckt hatte, sein eigenes Leben ihm wie ein Tunnel erschien, an dessen Ende nur völlige Dunkelheit lag. Er war bedrückt durch den Gedanken, dass niemand mehr da sein würde, der einmal «Derek Parfit» war. Doch durch die Moralphilosophie und das Nachdenken über die Zeit realisierte der grosse Denker, dass der Tod sich von den Erfahrungen nur dadurch unterscheidet, dass es keine zukünftigen Erfahrungen mehr geben wird, die in Beziehung zu heutigen Erfahrungen stehen. Doch alle vergangenen und jetzigen Erfahrungen bleiben bestehen.

Es gibt Erinnerungen an das Leben von Norbert Neininger. Es gibt Gedanken, die Norbert Neininger inspiriert hat. Es gibt Erlebnisse, die mit Norbert Neininger ins Hier und Jetzt und immer weitergetragen werden. Es werden Dinge getan aufgrund vieler kluger Ratschläge, die Norbert Neininger gegeben hat. Wir alle werden weiter lachen können über die skurrilen Geschichten und die vorzüglichen Witze, die wir von Norbert Neininger kennen. Viele Mitarbeiter werden Einiges von Neiningers Verständnis von Journalismus übernehmen,und und und. Derek Parfit umschreibt dies so:
«Mein Tod wird die direkten Beziehungen zwischen meinen heutigen und meinen zukünftigen Erfahrungen durchbrechen, aber andere Beziehungen wird er nicht durchbrechen.»

Was Derek Parfit auf vielen Hunderten von Seiten beschreibt, kennen wir, indem wir von ganz besondere Menschen, deren Erfahrungen uns nicht mehr zugänglich sind, sagen: Er lebt in uns weiter. Und zwar durch die Erfahrungen von Zeit mit Norbert Neininger und seinem Werk und Leben, die ihn mit uns heute und morgen verbinden. Der Respekt vor diesem Prozess der Beziehungen und Verbindungen zwischen Menschen sollte uns angesichts des Fehlens grosser Trost sein und die Transformation der gelebten und erinnerten Erfahrung mit einem Menschen ermöglichen.

Jetzt ist noch nicht der Zeitpunkt, da der Schock über das mitten aus dem Leben gerissen zu sein, noch anhält. Norbert Neininger ist am 30.5.2015 verstorben. Er fehlt. Den akuten Schmerz vermögen nur die Poesie, die Tränen und der Klang der Trauer auffangen. Die Würde, die schalkhaften Augen, der Humor, das klare Mensch-Sein, die Lebenslust, die Kraft für Wahrhaftigkeit und Unabhängigkeit, der liebevolle Umgang mit Menschen, die unvergleichliche Stimme mit dem Dialekt, der nie einen Gesangswettbewerb gewinnen wird, die Grosszügigkeit, Essen, Trinken und die Gabe, rauschende Feste mit Vielen zu teilen, unglaubliche Menschen an einem Tisch zusammenzubringen, bleiben. Denn genau diese Erfahrungen verbinden Norbert Neininger mit den Menschen, die er berührt hat.

Mein grosses Beileid an die Freunde und Familie von Norbert Neininger.

Was mich betrifft, so hoffe ich, dass ich, wenn ich irgendwann wieder seinem Bilde ohne diesen Schmerz mit einem aufmunternden Lachen, grossen Augen und dem neusten Witz, inklusive einem guten Tropfen unbeschwert zuprosten kann. Denn auch ohne Derek Parfit weiss ich schon lange: Tot ist nur der, der nie wirklich gelebt hat. Norbert Neininger hat ein volles Leben gelebt. Es wäre schön gewesen, noch viele Erfahrungen mit ihm zu teilen. Er würde aber wollen, dass wir, die ihm verbunden waren, in Erinnerung an und mit ihm noch oft auf das Leben anstossen können.

(Regula Stämpfli/news.ch)

Lesen Sie hier mehr zum Thema
Bern - Norbert Neininger, der bekannte Schaffhauser Verleger und Chefredaktor der Schaffhauser Nachrichten, ist am Samstagmorgen kurz vor seinem 65. Geburtstag nach kurzer Krankheit verstorben. Weggefährten würdigen ihn als Bereicherung für den Schweizer Journalismus. mehr lesen 
.
Digitaler Strukturwandel  Nach über 16 Jahren hat sich news.ch entschlossen, den Titel in seiner jetzigen Form einzustellen. Damit endet eine Ära medialer Pionierarbeit. mehr lesen 22
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: ...
«Männer stimmten für Hofer, Frauen für Van der Bellen» titelte die FAZ nach dem Wahlkrimi in Österreich. «Warum wählen junge Männer so gern rechts?» fragte jetzt.de einen Soziologen. «Duh» war meine erste Reaktion, hier ein paar weitere. mehr lesen 3
Gewinnorientierte Unternehmen wie der ORS machen aus der Flüchtlingshilfe ein Geschäft. Das Rote Kreuz und die Caritas, die gemeinnützig sind und seit Jahren über grosse Erfahrung in der Betreuung von Menschen auf der Flucht ... mehr lesen
Flüchtlinge (hier in Mazedonien): Mit Gewinnziel zu verwaltende Konkursmasse oder doch Menschen?
Armeechef Blattmann: bedenklicher Umgang mit demokratischen Grundrechten.
Korpskommandant André Blattmann wird von den Mainstreammedien der «Beleidigung» bezichtigt. Er nannte den Rundschau-Chef Sandro Brotz, «Sandro Kotz.» Wer meint, dies sei nur ein Sturm im Wasserglas, irrt. Blattmann ... mehr lesen   2
«Bist Du nicht willig, stimmen wir ab.» So lautet die Devise der unschweizerischen bürgerlichen Mehrheit seit den Wahlen im Herbst 2015. «Wie schamlos hätten Sie es ... mehr lesen   2
Der Nationalrat - seit 2016 absolut schamlos.
Typisch Schweiz Der Bernina Express Natürlich gibt es schnellere Bahnverbindungen in den Süden, aber wohl ...
Der Kauf eines neuen Dufts ist immer ein Erlebnis, besonders in einer Parfümboutique.
Shopping Die zauberhafte Welt der Duft- und Parfümboutiquen Duft- oder Parfümerieboutiquen sind besondere Geschäfte, die sich auf den Verkauf von Düften und Parfüms spezialisiert haben. Sie bieten eine grosse ...
Erstaunliche Pfingstrose.
Jürg Zentner gegen den Rest der Welt.
Jürg Zentner
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.
Regula Stämpfli seziert jeden Mittwoch das politische und gesell- schaftliche Geschehen.
Regula Stämpfli
«Hier hätte ich noch eine Resistenz - gern geschehen!» Schematische Darstellung, wie ein Bakerium einen Plasmidring weiter gibt.
Patrik Etschmayers exklusive Kolumne mit bissiger Note.
Patrik Etschmayers
Obama in Hanoi mit der Präsidentin der Nationalversammlung, Nguyen Thi Kim Ngan auf einer Besichtigungstour: Willkommenes Gegengewicht zu China.
Peter Achten zu aktuellen Geschehnissen in China und Ostasien.
Peter Achten
Recep Tayyp Erdogan: Liefert Anstoss, Strafgesetzbücher zu entschlacken.
Skeptischer Blick auf organisierte und nicht organisierte Mythen.
Freidenker
 
Stellenmarkt.ch
Kreditrechner
Wunschkredit in CHF
wetter.ch
Heute Do Fr
Zürich 7°C 22°C recht sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich freundlich
Basel 10°C 25°C sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich recht sonnig
St. Gallen 9°C 21°C sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich recht sonnig
Bern 7°C 23°C sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich recht sonnig
Luzern 9°C 22°C recht sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich recht sonnig
Genf 10°C 24°C sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich recht sonnig
Lugano 14°C 24°C sonnigleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich recht sonnig
mehr Wetter von über 8 Millionen Orten