Traut Eurem Hirn beim Denken nicht

publiziert: Montag, 13. Jun 2011 / 09:24 Uhr / aktualisiert: Montag, 13. Jun 2011 / 12:01 Uhr
Trauen sie ihm nicht, es hat manchmal sehr falsche Ideen von der Welt: Ihr Hirn.
Trauen sie ihm nicht, es hat manchmal sehr falsche Ideen von der Welt: Ihr Hirn.

Wenn es darum geht, die Handlungen der Menschheit zu erklären, stossen im Moment immer wieder zwei Fronten aufeinander: Auf der einen Seite die Philosophen-Fraktion, welche den menschlichen Geist als etwas Autonomes betrachtet, das erst durch die Umwelt und das soziale Umfeld geformt wird und auf der anderen Seite die Biologisten, die Persönlichkeit und Verhalten als reinen Ausdruck vererbten Verhaltens sehen.

Der Haken daran ist, dass beide Denkschulen bei der praktischen Überprüfung ihrer Behauptungen schnell an Grenzen stossen, und meist genau dort, wo das andere Lager mit seinen Erklärungen zu glänzen vermag. Es ist daher erfreulich, dass immer mehr Philosophen und Neurowissenschaftler beginnen, über den Zaun zu schauen, und so langsam den Ursachen der zum Teil verhängnisvollen Denkfehler, welche Wirtschaftsdesaster, Kriege und Umweltkatastrophen verursachen, auf die Spur zu kommen.

Unbestritten ist, dass alle Denkvorgänge im Hirn stattfinden und dass bestimmte Hirnareale sehr spezifische Aufgaben wie das Abwägen von Risiken, das Belohnen oder die moralische Bewertung von Handlungen übernehmen. Und wie es scheint, gibt es durchaus Automatismen im Hirn, die unsere Denkbahnen bei alltäglichen Entscheidungen lenken. Bei einfachen Problemen reicht dies in der Regel aus. Doch stellt man Testpersonen vor einen moralischen Zwiespalt wie das Baby-Dilemma (Eine Gruppe Zivilisten versteckt sich im Krieg vor feindlichen Soldaten. Ein Baby beginnt zu weinen und droht die Versteckten so zu verraten. Wenn sie gefunden werden, so werden alle - auch das Baby - getötet. Soll ein Kindermord begangen werden, um die Gruppe zu retten?), so kommen auch jene Hirnbereiche ins Spiel, die für komplexe Entscheidungen verwendet werden, der Automatismus (in diesem Fall, dass man auf keinen Fall Babys umbringt) wird ausgeschaltet.

Interessant auch, dass Handlungen, die das gleiche Resultat haben, aber unterschiedlich durchgeführt werden, anders bewertet werden. Auch hier wurde ein moralisches Dilemma verwendet. Ein herrenloser Eisenbahnwagen fährt auf eine Gruppe ahnungsloser Menschen zu, die von diesem getötet würden. Im einen Fall könnte man diese retten, indem man einen sehr dicken, unbeteiligten Mann vor den Wagen stösst, der diesen ausreichend abbremsen würde. Im anderen Fall könnte man eine Weiche stellen, die den Wagen von der Gruppe weg auf einen einzelnen Mann steuert, der stattdessen umkäme.

Erwachsene genau so wie Achtjährige entscheiden hier genau gleich: den Mann vor den Zug zu stossen ist falsch, während eine grosse Mehrheit die Weiche stellen würde. Dieses universelle - offensichtlich evolutionär verwurzelte - Verhalten deutet auch auf ein Problem hin, das viele Bereiche des heutigen Leben betrifft. Während fast jeder grösste Hemmungen hätte, eine alte Frau im Winter auf die Strasse zu setzen, gibt es wesentlich weniger, die ein grosses Problem damit haben, eine Unterschrift, die den selben Effekt hat, auf ein Stück Papier zu schreiben. Die Konsequenzen des Handelns mögen die gleichen sein, aber nur eine Minderheit denkt diese bis zu einer persönlichen Ebene hin durch.

Schon gar nicht wenn es um grosse Menschenmengen geht, die betroffen wären. Ja, je mehr betroffen sind, desto weniger berührt es meist die Entscheider. Und speziell dies ist auch auf unsere Stammesgeschichte zurück zu führen, denn bei solchen Dingen wird das ventrale Striatum, eine Hirnregion, die in Eichhörnchen zum Schätzen der Anzahl Nüsse, die auf dem Boden liegt, eingesetzt. Auch unsere Vorfahren hatten nur selten mit grossen Nummern zu tun und wenn etwas zu viel ist, kümmert es unser Hirn nicht mehr wirklich, schon gar nicht auf einer emotionalen Ebene. Dies war damals einfach unerheblich. Mehr als viel interessiert nicht.

Und dann gibt es noch ein weiteres - überlebenswichtiges - Erbe, das unser Denken beeinflusst: Ekel. Die Abneigung gegen Eiter, Fäkalien und Erbrochenes ist eine natürliche Abwehr, um Krankheiten zu vermeiden. Die gleichen Hirnareale kommen aber auch zum Einsatz, wenn wir uns vor fremden Kulturen und Einflüssen fürchten, was sogar eine bestimmte Logik hat: Fremde konnten Krankheiten bringen, gegen die man nicht Immun war. Die beinahe-Ausrottung der Amerikanischen Ureinwohner mit eingeschleppten Krankheiten von Europäern ist wohl eines der besten Beispiele dafür.

Dies geht soweit, dass selbst scheinbar unwichtige Details das Denken beeinflussen können: In einem Versuch wurde in einer Universität eine Umfrage gemacht, einmal in einem leeren Gang, einmal in der Nähe einer Hand-Desinfektionsstation. Der erstaunliche Effekt: Die Antworten neben der Desinfektionsstation fielen im Durchschnitt wesentlich konservativer aus was moralische, ja sogar fiskalische Fragen betraf. Dies weil offenbar ein Hirnareal durch einen Reiz aktiviert wurde, das in konservativen Wählern aktiver zu sein scheint, da diese eine grössere Sensitivität was Ekel betrifft, angeben. Konservatives Denken, eine höhere Ekel-Empfindlichkeit und Angst vor Infektion scheinen zumindest neurologisch Hand in Hand zu gehen (was Handkehrum die hygienischen Verhältnisse in manchen progressiven WG′s erklären könnte).

Es können hier nur wenige der neueren Kenntnisse zusammengefasst werden, aber eine Folgerung sollte wohl sein: Traut Eurem Hirn nicht. Zumindest nicht, wenn es um komplexe Entscheidungen geht, die in ihrer Dimension jenseits der Welt eines Steinzeitmenschen liegen. Wenn es für unsere Vorfahren völlig irrelevant war, was ihr Handeln auf die Welt für einen Einfluss hat, so müssen wir heute immer die emotional unvorstellbare Zahl von bald 7 Milliarden als Multiplikator in unser Handeln einrechnen. Manager sollten nicht an 5000 Leute, die sie rausschmeissen, denken, sondern an einen einzelnen Familienvater und seine 3 Kinder, genau so wie Politiker, die das Wohlergehen weniger vor das Elend vieler stellen. Der Glaube, dass unser Handeln wie beim Klimawandel nicht die ganze Welt beeinflussen kann, zeugt von eher steinzeitlichem Denken, genau wie eine unerschütterliche Angst vor allem Fremden.

Auch müssen wir alle erkennen, dass die Mechanismen, die uns von den Effekten unserer Handlung entfernen uns nicht der Verantwortung entbinden, dass ferngesteuertes Grauen genau so schrecklich wie unmittelbares ist. Wenn wir dies weiterhin vergessen, werden wir auch vergessen, Mensch zu sein.

Die Aufgabe von Wissenschaftlern und Philosophen muss es sein, diese Fallen für das Denken und Handeln in der modernen Welt sichtbar und die Gesellschaft für diese Sensibel zu machen, so dass all jene, die finden, aktiv zu denken sei was für Schöngeister und Gutmenschen begreifen, dass dies Pflicht für jeden mündigen Menschen sein sollte.

(Patrik Etschmayer/news.ch)

.
Digitaler Strukturwandel  Nach über 16 Jahren hat sich news.ch entschlossen, den Titel in seiner jetzigen Form einzustellen. Damit endet eine Ära medialer Pionierarbeit. mehr lesen 22
«Hier hätte ich noch eine Resistenz - gern geschehen!» Schematische Darstellung, wie ein Bakerium einen Plasmidring weiter gibt.
«Hier hätte ich noch eine ...
In den USA ist bei einer Frau mit Harnwegsinfektion zum ersten mal ein Bakterium aufgetaucht, das gegen das letzte Reserve-Antibiotikum resistent ist. Wer Angst vor ISIS hat, sollte sich überlegen, ob er seinen Paranoia-Focus nicht neu einstellen will. Denn das hier ist jenseits aller im Alltag sonst verklickerten Gefahren anzusiedeln. mehr lesen 4
Durch ungeschickte Avancen von SBB- und Post-Chefs, droht die Service-Public-Initiative tatsächlich angenommen zu werden. Von bürgerlicher Seite her solle laut einem Geheimplan daher ein volksnaher ... mehr lesen
Künftig mindestens 500'000.-- und die ganze Schweiz inklusive: SwissPass, der schon bald mal GACH heissen könnte.
Urversion von IBM's Supercomputer WATSON: Basis für 'ROSS'... und unsere zukünftigen Regierungen?
Eine renommierte US-Kanzlei stellt einen neuen Anwalt Namens Ross ein. Die Aufgabe: Teil des Insolvenz-Teams zu sein und sich durch Millionen Seiten Unternehmensrecht kämpfen. Und ... mehr lesen  
In letzter Zeit wurden aus Terrorangst zwei Flüge in den USA aufgehalten. Dies, weil Passagiere sich vor Mitreisenden wegen deren 'verdächtigen' Verhaltens bedroht fühlten. ... mehr lesen  
Sicherheitskontrolle in US-Airport: 95% Versagen, 100% nervig.
Typisch Schweiz Der Bernina Express Natürlich gibt es schnellere Bahnverbindungen in den Süden, aber wohl ...
Highlight der Kollektion: Eine Gibson Les Paul von 1959, die 300.000 bis 500.000 Pfund einbringen soll.
Shopping Mark Knopfler verkauft seine Gitarrensammlung Die Gitarrensammlung vom Dire Straits-Gitarristen Mark Knopfler wird am 31.01.2024 bei Christie's versteigert.
Erstaunliche Pfingstrose.
Jürg Zentner gegen den Rest der Welt.
Jürg Zentner
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.
Regula Stämpfli seziert jeden Mittwoch das politische und gesell- schaftliche Geschehen.
Regula Stämpfli
«Hier hätte ich noch eine Resistenz - gern geschehen!» Schematische Darstellung, wie ein Bakerium einen Plasmidring weiter gibt.
Patrik Etschmayers exklusive Kolumne mit bissiger Note.
Patrik Etschmayers
Obama in Hanoi mit der Präsidentin der Nationalversammlung, Nguyen Thi Kim Ngan auf einer Besichtigungstour: Willkommenes Gegengewicht zu China.
Peter Achten zu aktuellen Geschehnissen in China und Ostasien.
Peter Achten
Recep Tayyp Erdogan: Liefert Anstoss, Strafgesetzbücher zu entschlacken.
Skeptischer Blick auf organisierte und nicht organisierte Mythen.
Freidenker
 
Stellenmarkt.ch
Kreditrechner
Wunschkredit in CHF
wetter.ch
Heute Fr Sa
Zürich 0°C 12°C wolkig, aber kaum Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt wolkig, aber kaum Regen
Basel 5°C 14°C wolkig, aber kaum Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wolkig, aber kaum Regen wolkig, aber kaum Regen
St. Gallen 1°C 9°C wolkig, aber kaum Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich wechselnd bewölkt
Bern 0°C 11°C starker Schneeregenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig freundlich wolkig, aber kaum Regen
Luzern 1°C 12°C wolkig, aber kaum Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt wolkig, aber kaum Regen
Genf 5°C 13°C wolkig, aber kaum Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig wechselnd bewölkt wolkig, aber kaum Regen
Lugano 6°C 10°C wechselnd bewölkt, Regenleicht bewölkt, ueberwiegend sonnig anhaltender Regen anhaltender Regen
mehr Wetter von über 8 Millionen Orten