Vettels Bewährungsjahr als neue Nummer 1
Zwei Wochen später als geplant startet die Formel 1 an diesem Wochenende in Australien in ihre 62. WM-Saison. Neue Reifen und radikale Reglementsänderungen sollen für grössere Spannung sorgen, ein Umsturz der Hierarchie ist gleichwohl nicht zu erwarten.
Neue Rennstrategien und erleichtertes Überholen
Für erhöhte Spannung in den kommenden WM-Rennen sorgt primär der Wechsel bei den Einheitsreifen von Bridgestone zu Pirelli. Der Mailänder Reifenkonzern hat sich vorgenommen, auf die Rennstrategien einzuwirken und auf diese Weise zu interessanteren und abwechslungsreicheren Grands Prix zu verhelfen. Da die im türkischen Izmit hergestellten Pneus schneller abbauen, wird im Vergleich zur Vorsaison mit markant mehr Boxenstopps gerechnet. Während Pirelli-Sportchef Paul Hembery schätzt, dass die Fahrer bei rund der Hälfte der Rennen gezwungen sein werden, zweimal an die Box zu fahren, rechnet Sebastian Vettel damit, dass häufig nicht einmal zwei Stopps ausreichen.
Neben dem wieder erlaubten Energierückgewinnungssystem KERS, das den Fahrern für rund sechs Sekunden pro Runde 82 zusätzliche PS beschert, sind die Autos in diesem Jahr erstmals mit einem verstellbaren Heckflügel zum Überholen ausgestattet. Dieser ermöglicht auf den Geraden eine rund zehn km/h höhere Geschwindigkeit, darf allerdings nur an bestimmten Stellen der Strecke benutzt werden, wenn ein Fahrer bis auf eine Sekunde an den Vordermann herangefahren ist.
Vettel vom Jäger zum Gejagten
Trotz der radikalen Reglementsänderungen ist ein Umsturz der bisherigen Hierarchie nicht zu erwarten. Die Topteams Red Bull, Ferrari, McLaren und Mercedes verfügen weiterhin über die höchsten Budgets und die besten Ingenieure. Der Hunger nach Erfolg ist bei Red Bull nach wie vor gross, viele Techniker sind noch unverbraucht, das Entwicklungspotenzial hoch. Alles deutet daraufhin, dass Sebastian Vettel und Mark Webber erneut im schnellsten, nicht jedoch im zuverlässigsten Auto sitzen werden. Laut Chefdesigner Adrian Newey ist der neue Bolide wiederum eine Evolution des erfolgreichen Vorjahresmodells, mit dem das britisch-österreichische Team beide WM-Titel gewonnen hat.
Vettel stieg bei den «Bullen» in lediglich dreieinhalb Jahren vom Lehrling zum Champion auf. In sein Bewährungsjahr als Branchenführer geht der 23-Jährige mit Wohnsitz im Kanton Thurgau als klarer Teamleader. Illusionen gibt sich Vettel gleichwohl nicht ihn. Es sei zwar ganz angenehm, als Weltmeister in die Saison zu starten, aber schneller sei er deswegen nicht, so der Deutsche. Mit dem Druck, erstmals der Gejagte zu sein, muss Vettel lernen umzugehen. Sein Humor und Charme allein reichen hierfür zwar nicht aus. Mit dem im letztjährigen Saisonfinale gewonnenen Selbstvertrauen und dem Wissen, in Newey den genialsten Konstrukteur an seiner Seite zu haben, verfügt Vettel jedoch über ein grosses Faustpfand. Interessant zu beobachten wird sein, wie sich Webber im Saisonverlauf gegenüber seinem Teamgefährten verhält.
Im Vorjahr vergab der 34-jährige Australier die wohl einmalige Chance zum Titelgewinn in den letzten drei Rennen und musste am Ende - nach einigen teaminternen Querelen - ausgerechnet Vettel zum WM-Sieg gratulieren. Obschon Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz beteuerte, dass Webber trotz Vettels Titel wiederum absolut gleichberechtigt in die Saison startet, glauben die meisten Experten nicht an eine ähnlich starke Saison des letztjährigen WM-Dritten.
Ferraris Kampfansage, McLarens Probleme
Mit Ferrari und McLaren wollen zwei Frustrierte der vergangenen Saison Vettel vom WM-Thron stossen. Nach dem leichtfertig verspielten Titel für Fernando Alonso sind die Kampfansagen aus Maranello deutlich. Ferrari strebe nach dem «vergebenen Elfmeter ohne Torhüter» nach Wiedergutmachung, erklärte Präsident Luca di Montezemolo. «Wir sind auf Rache aus und wollen beide Titel», tönte derweil Teamchef Stefano Domenicali. Während den Wintertests spulte Ferrari mit Abstand die meisten Kilometer aller Teams ab und schien bezüglich Leistungsstärke knapp hinter Red Bull, aber vor McLaren und dem restlichen Feld zu liegen. 2010 hatte Alonso noch keinen Einfluss auf die Konstruktion des Autos, in diesem Jahr kann die Kombination Ferrari/Alonso erstmals die volle Wirkung entfalten. Den internen Machtkampf gegen Felipe Massa entschied der Spanier bereits im vergangenen Sommer für sich, als er in Hockenheim am führenden Brasilianer vorbeigelotst wurde.
Dritter Sieg- beziehungsweise Titelanwärter bleibt McLaren-Mercedes mit dem starken britischen Duo Lewis Hamilton und Jenson Button. Der Rennstall aus Woking hatte bei den Testfahrten allerdings die grössten Probleme aller Spitzenteams zu beklagen. Das neue Auto war nicht besonders schnell und blieb oft mit technischen Problemen stehen. «Wenn man die Kilometerleistung von Red Bull oder Ferrari anschaut, dann liegen wir im Vergleich meilenweit zurück», so Button, der mit seinem Teamgefährten ein äusserst kollegiales Verhältnis pflegt. Hamilton, das für viele grösste Fahrer-Talent der Gegenwart, war im Vorjahr im Gegensatz zu Button bis zum Schluss in den Titelkampf involviert und dürfte teamintern bezüglich Speed auch in dieser Saison die Nase vorn haben. Vor dem Hintergrund der schnell abbauenden Pirelli-Pneus kann Button derweil seine Qualitäten als «Reifenflüsterer» in der kommenden Saison mehr denn je erfolgsversprechend zur Geltung bringen.
Das Werkteam von Mercedes steht in seiner zweiten Saison nach der Rückkehr in die Formel 1 mächtig unter Druck. Die Schonzeit ist vorbei, ein Eindringen in die Phalanx der drei Topteams respektive Siege aus eigener Kraft bleiben für die Stuttgarter Equipe aber eher unrealistisch. Michael Schumacher und Nico Rosberg werden sich zunächst vorsehen müssen, Lotus-Renault trotz des Ausfalls von Robert Kubica in Schach zu halten.
(bg/Si)
- kurol aus Wiesendangen 4
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