Wider die staatliche Mythenpflege
Der Mythos der staatstragenden «Landeskirchen» trägt nicht mehr. Zu offensichtlich ist der Schrumpfungsprozess dieser Kirchen und zu deutlich die Wirkungslosigkeit kirchlicher Appelle an die StimmbürgerInnen - Mythos und System der «Landeskirchen» haben ausgedient, Religionsförderung kann keine Staatsaufgabe sein.
Auch in der Schweiz, so der Einsiedler Abt Werlen, verhält sich die finanzielle Ausstattung der Landeskirchen im Vergleich zur gelebten Gläubigkeit wie ein Rolls-Royce zu einem Mofamotor. Zwar sind auch hierzulande angesichts der rückläufiger Mitgliederzahlen und Kirchensteuererträge Bestrebungen im Gang, kleine Kirchgemeinden in grösseren Einheiten zusammenzufassen und leerstehende Kirchen aufzugeben, aber immer noch werden die «Landeskirchen» in fast allen Kantonen direkt oder indirekt durch Staatsbeiträge massiv unterstützt und werden zu ihren Gunsten auch juristische Personen besteuert. Damit sich dieses System auch in Zukunft halten kann, setzen sich vor allem die Reformierten für die staatliche Anerkennung und Alimentierung weiterer Religionsgemeinschaften ein.
Eine Wende kündigte jedoch das Bundesamt für Statistik an: In Basel-Stadt und im Kanton Neuenburg sind die Konfessionslosen bereits heute die grösste Gruppe (2010: 42,2 bzw. 37,0 Prozent). Und wenn Ende 2013 weitere Analysen der Strukturerhebung vorliegen, wird deutlich werden, dass es - wie überall auf der Welt - vor allem die jüngeren Menschen sind, die keiner «Landeskirche» und auch keiner anderen Religion mehr angehören, dass die Religionszugehörigkeit sich also auswächst.
Wer es sehen will, sieht es: Der Staat lebt zwar - so das von den Kirchen gerne zitierte Diktum des deutschen Staatsrechtlers Böckenförde - von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann, aber das ist kein Votum für die heutigen Kirchenprivilegien, sondern bedeutet schlicht, dass der Staat den Bürgersinn seiner BürgerInnen nicht garantieren kann, dass die Menschen selber den Staat ausmachen und ihn immer wieder mit neuen Elan definieren müssen.
Doch woher nehmen die Menschen diesen Elan? Es ist offenbar eine evolutionäre Entwicklung, dass sich gewisse Lebensformen erfolgreich zu vergesellschaften begannen. In der Regel beruhen diese Gesellschaften auf einer klaren Unterscheidung zwischen jenen, die dazu gehören und jenen, die nicht dazugehören. Religion bietet dazu eine probate Methode: Wer bereit ist, sich einer gemeinsamen Gottheit zu unterwerfen, der wird sich auch freiwillig in eine Gesellschaftsordnung integrieren und sich einem Oberhaupt von Gottes Gnaden unterwerfen.
Mit der Aufklärung gelang jedoch - via die USA - in Europa einer neuen Sicht der Durchbruch: Die Staatssache, die res publica, wird zur gemeinsamen Sache zum gemeinsamen Wohl der Menschen, der Mythos einer Regierung von Gottesgnaden aufgegeben.
Weil Mythen sich als Meme der Macht aber bewährt hatten, wurde im 19. und 20. Jahrhundert dem Mythos der Nation gehuldigt, in dem die biologische und kulturelle Herkunft die Zugehörigkeit definierte. Nach dessen Diskreditierung durch die Nazis lebte er weiter unter dem Begriff der «Ethnie» und bildete die Grundlage von «ethnischen Säuberungen» mit dem Ziel ethnisch «reiner» Staaten.
Im Übergang zum 21. Jahrhundert macht auch die Religion als Mythos wieder etwas Boden gut. Es entstehen einerseits «islamische Republiken» - mit dem religiös begründeten Recht der Scharia als Mythos - und andererseits plustern sich in den westlichen Ländern die christlichen Kirchen reflexartig vor allem in der virtuellen Öffentlichkeit auf. Auch in der Schweiz, gehätschelt von PolitikerInnen, die sich bei jeder Abstimmung zur Trennung von Staat und Kirche über alle Parteigrenzen hinweg zur unheiligen Koalition mit dem Ziel der Erhaltung des Mythos der staatstragenden «Landeskirchen» verbünden, obwohl die Religionssoziologie aufzeigt: Auch Mitglieder der «Landeskirchen» haben zu über 60 Prozent ein distanziertes Verhältnis zur Kirche, sie finden die Kirche allenfalls wichtig für die «Anderen» aber nicht nötig für sich selber, also auch nicht für ihre eigene Motivation zur staatsbürgerlichen Haltung. Im Gegenteil: Auf kirchliche Stellungnahmen zur Tagespolitik und Abstimmungsempfehlungen reagieren die meisten Mitglieder ablehnend.
Staatstragend sind Menschen, welche die Verfassung des Staates respektieren, ihre Steuern bezahlen und anderen staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen. Aus welchen persönlichen Motiven sie das tun, soll einen liberalen Staat nicht kümmern. Wenn er eine besondere Ideologie oder Religion privilegiert, beschneidet er ohne Not die Freiheit seiner BürgerInnen - das wird sich auf Dauer nicht halten lassen. Denn vor allem jungen BürgerInnen hat längst gedämmert: Mythos und System der Staatskirche haben ausgedient, Religionsförderung ist keine Staatsaufgabe.
(Reta Caspar/news.ch)
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