Laure Wyss ist 86 und hat ein halbes Jahrhundert engagierten
Journalismus betrieben und Bücher geschrieben. Sie sieht jünger aus
als ihr Jahrgang und ist immer noch kühner und engagierter als
manche Jugendliche. Wenn sie sagt «Ich bin jetzt alt» antwortet
jeder gleich: «Du doch nicht». Das stört sie. Alter ist kein
Schimpfwort sondern der Name einer Lebensepoche, sagt sie.
Überfällige...
Freilich, so Wyss, ist kein anderer Lebensabschnitt so streng
reglementiert wie das hohe Alter. Altsein heisst, zum wachsenden
Kontingent jener zu gehören, «die zur Belastung der aktiven
Bevölkerung werden». Und sie stellt sich einen Demonstrationszug
der «Überfälligen» vor, der sich wie die Lemminge von der Klippe
stürzt.
Dieser düster-sarkastische Beitrag ist freilich nicht typisch
für «Schuhwerk im Kopf». Die meisten Beiträge sind - im Gegenteil -
aufbauend. Wie gestalte ich mein Alter, fragt sich die Autorin,
und entfaltet Aspekte ganz eigener Art.
...wissen sich zu helfen
Dabei ist ihr unter anderem ihre Belesenheit dienlich. Bei
Cicero etwa erfährt sie, dass Philosophie jedes Lebensalter von
Kummer befreit. Und Hermann Melvilles «Bartleby, der Schreiber»
dient als Beispiel dafür, dass jemand selbst durch Verweigerung
aller gesellschaftlichen Aktivitäten noch Gutes in andern auslösen
kann.
Schwächen können Stärken hervorbringen: Wer vergesslich ist,
entwickelt Phantasie. Wer ungelenkig ist, wird zum
Organisationsgenie. Und wer nicht mehr gut zu Fuss ist, muss halt
den Kopf mit gutem Schuhwerk bestücken, um seine Seele im Notfall
in Sicherheit zu bringen.
Angegriffen, aber nicht vom Alter
Ein Text sticht aus der Sammlung heraus: Er beschreibt das
Trauma eines brutalen Überfalls auf offener Strasse. Von den
Verletzungen, die die Autorin davonträgt, ist der gebrochene Arm
noch die harmloseste. Viel gravierender empfindet sie den «Absturz
der Seele»: den Einbruch in ihre persönliche Integrität durch den
Täter, unterlassene Hilfeleistung durch Passanten und Ärzte.
Die Geschichte «Einbruch im Juni» erschreckt und berührt. Es
scheint, als würde hier die furchtlose «Alte» für ihre Stärke
bestraft: Der Täter hatte sich durch ihren festen Schritt
provoziert gefühlt und die Ärzte muteten ihr zuviel zu.
Laure Wyss, «Schuhwerk im Kopf».
Limmat Verlag 2000
61 Seiten
Fr. 19.50
(sda)