Ein Hin und Her um die Ehrenplätze

Gold war schon an den grossen Rivalen aus dem Reich der Mitte verloren, als der dreifache Mehrkampf-Weltmeister Kohei Uchimura zur letzten Übung am Pauschenpferd antrat, um Japan wenigstens Silber zu sichern. Doch Uchimura stürzte beim Abgang spektakulär aufs Gesicht. Der komfortable Vorsprung auf Grossbritannien und die Ukraine war plötzlich weg und Japan nur noch auf dem 4. Platz.

Das Publikum hatte noch damit zu tun, sich die Freude darüber aus dem Leib zu schreien, dass das Heimteam den Zweikampf um Bronze gegen die Ukraine für sich entschieden hatte, als es realisierte, dass der grossartige Auftritt des Europameisters sogar für Silber gereicht hatte. Doch Kohei Uchimura war zu viel vom Schwierigkeitswert abgezogen worden. In solchen Fällen treten die beiden Referenzkampfrichter auf den Plan. Die Intervention führte dazu, dass Uchimuras Note um 0,5 Punkte nach oben korrigiert wurde.

So gabs für Japan doch noch Silber und ging die Ukraine leer aus. Uchimura hatte den Abgang am Pauschenpferd schon in der Qualifikation verpasst, als er darüber hinaus noch zwei weitere Stürze verzeichnete und nur in einen Gerätefinal vorstiess. Wenn der vermeintliche Überturner seine Karriere am Mittwoch mit dem Olympiasieg im Mehrkampf krönen will, muss er seine Nerven in den Griff bekommen.

Die Japaner verzücken die Experten mit ihrer Eleganz und technischen Brillanz. Doch als Mannschaft kommen sie einfach nicht an den Chinesen vorbei - mit Ausnahme der Sommerspiele 2004 in Athen. China hat neun der letzten zehn Team-WM-Titel gewonnen und in London den Olympiasieg von Peking wiederholt. Im Gegensatz zu 2008 verfügt die führende Turnnation allerdings über keinen Mehrkämpfer mehr, der für eine Medaille infrage kommt. Yang Wei, die grosse Figur der Heimspiele, gab nach erfüllter Mission im Frühjahr 2009 seinen Rücktritt bekannt. Wei hatte sich in Peking übrigens vor Uchimura durchgesetzt, der im Final gleich zweimal gestürzt war - natürlich am Pauschenpferd.

In der North Greenwich Arena wurde das Team China von Zou Kai und Chen Yibing getragen, die vor vier Jahren neben Gold mit der Mannschaft auch am Reck (Zou), am Boden (Zou) und an den Ringen (Chen) gewonnen hatten. In der Qualifikation belegten China und Japan nach ungewohnten Fehlerserien nur die Ränge 6 und 5. Im Final, als niemand mehr auf Einzelinteressen (Gerätefinals) Rücksicht nehmen musste, wurde die Ordnung wieder hergestellt. Für die Amerikaner, in der Vorrunde noch das mit Abstand stärkste Team, platzte der Traum vom ersten olympischen Mannschafts-Gold seit 1984 mit drei Stürzen an den ersten beiden Geräten früh.

Dafür stand erstmals seit genau 100 Jahren ein britisches Team auf dem Podest. Die Gastgeber hatten die Olympia-Qualifikation erst im zweiten Anlauf geschafft. Neben den beiden Mehrkampffinalisten Kristian Thomas und Daniel Purvis sowie Louis Smith, dem Topfavoriten auf den Olympiasieg im Pauschenpferd, gehörten mit Sam Oldham und Max Whitlock zwei 19-Jährige zur Mannschaft. Sie hatten an den Junioren-EM 2010 vor dem Ostschweizer Pablo Brägger Gold und Silber im Mehrkampf gewonnen. Brägger ist seither an die nationale Spitze vorgedrungen, Oldham und Whitlock dagegen sind in der Weltklasse angekommen.

Oldham, der für den einzigen britischen Sturz im Team-Final verantwortlich war (am Reck), hatte das Olympia-Aufgebot anstelle von Daniel Keatings erhalten. Der langjährige Teamleader gewann 2009 in der North Greenwich Arena als erster Brite eine WM-Medaille im Mehrkampf und an den Olympia-Trials zweimal Gold und dreimal Bronze. Dennoch setzten die Selektionäre lieber auf Oldham als den von einer im April erlittenen Bänderverletzung zurückgekehrten Keatings. So war der bei der grössten Sternstunde für das britische Kunstturnen seit 100 Jahren nur Zuschauer.

(fest/Si)