Das Ende des Reduktionismus

publiziert: Freitag, 2. Apr 2010 / 11:19 Uhr / aktualisiert: Freitag, 2. Apr 2010 / 12:05 Uhr

Als am vergangenen Montag im Large Hadron Collider des CERN zwei Protonenstrahlen mit 3,5 TeV kollidierten, stellte dies für die beteiligten Forscher einen Triumph sondergleichen dar, doch an Kritik mangelte es nicht – so auch in einer Kolumne durch Frau Stämpfli.

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Einige der Kritikpunkte sind allerdings schnell aus dem Weg geräumt. Wenn zum Beispiel die enormen Kosten angesprochen werden: Ja, 6,5 Milliarden Franken für das Projekt sind viel Geld. Doch diese Kosten verteilen sich über Jahre. Aber sicher. Es ist viel Geld. Doch schauen wir mal die weltweiten Rüstungsausgaben im Jahr 2009 an: 1460 Milliarden US-Dollar. Nach zwei Tagen schon ist also ein LHC-Teilchenbeschleuniger mit dem bezahlt, was weltweit fürs Töten ausgegeben wird.

Die tiefere Frage, die ein LHC oder irgend ein anderes Projekt der wissenschaftlichen Grundlagenforschung in der heutigen Zeit aufwirft, ist, ob es die Menschheit wirklich weiter bringen kann. Steht der mögliche Wissensgewinn in Relation zu den Problemen der wirklichen Welt? Oder gleiten wir in einen Daten- und Zählfetischismus ab, der dazu führt, dass der Mensch nur noch als Ansammlung von Parametern betrachtet wird?

Wir sind leider schon fast so weit und die Wissenschaft hat viele der Daten dazu geliefert, die das möglich gemacht hat. Ist der Vorwurf daher gerechtfertigt, dass der reduktionistische Ansatz in der Forschung die Welt entmenschlicht hat?

Ja und Nein... der Reduktionismus, die Methode, das Grosse, das Komplexe verstehen zu wollen, indem man es in kleinste Teile zerlegt, war lange die Ultima Ratio der Wissenschaft. Doch seit einiger Zeit haben sich die Ansichten dazu in der Forschung gewandelt. Denn je tiefer die Forscher in die kleinsten Bereiche vordrangen, desto mehr mussten sie feststellen, dass die Erklärung nicht in den Einzelteilen komplexer Systeme, sondern in deren Beziehungen zueinander, in den Interaktionen miteinander liegen.

Ob in der Biologie oder der Physik, in der Soziologie oder der Neurologie, überall dämmert seit einiger Zeit die Erkenntnis, dass die Dynamik von Systemen sich einfachen Erklärungen entzieht. Schon die biologischen Vorgänge, die in einer einfachen Pfütze ablaufen, lassen sich nicht einmal mit einem Supercomputer genau voraussagen. Geschweige denn die Vorgänge in einem menschlichen Hirn.

Der Wunsch, ein «Verbrecher-Gen» oder ein «Genie-Gen» zu finden, stammt aus der reduktionistischen Zeit und spukt immer noch in manchen Köpfen herum, ist von Entwicklungsbiologen aber längst in den Müll geschmissen worden. Ein Mensch entwickelt sich dynamisch. Sein Verhalten wird genauso von seinen Genen wie seiner Umwelt geformt. Wir sind keine Automaten.

Das Problem sind nicht die Wissenschaftler sondern die Macher in Politik und Wirtschaft. Hier ist der Wunsch nach der einfachen Verwaltbarkeit und Manipulierbarkeit des Menschen am grössten, genauso wie die Neigung, die Welt selektiv wahrnehmen, und nur das, was im eigenen Interesse steht, sehen zu wollen. Fast jede politische Entscheidung, die angeblich auf wissenschaftlichen Resultaten basierend getroffen wurde, ist meist nur aufgrund einseitig ausgewählter Studien oder gar Teilresultaten gemacht worden. Interessengruppen sorgen dafür, dass missliebige Studien ignoriert werden und PR-Büros spezialisieren sich darauf, komplexe Sachverhalte solange zu vereinfachen, bis sie falsch und zweckdienlich sind. Von der ursprünglichen Wissenschaft ist am Ende meist nicht mehr viel übrig.

Zurück zum CERN. Wird es den Welthunger beseitigen und Frieden bringen? Nein. Das kann und will es nicht. Es kann herausfinden, woher das Universum kam, das uns alle erschaffen hat. Es bringt Forscher aus vielen Ländern zusammen, die friedlich kooperieren und demonstrieren, dass es Dinge gibt, die über Ideologien, nationalistischem Hick-Hack und Rassismus stehen, indem sie gemeinsam, ohne vorgefasste Meinung, versuchen, ihre Theorien zu überprüfen und ein wenig mehr über diese Welt heraus zu finden. Und wenn diese Suche nach dem Allerkleinsten auch wie ein weiterer Reduktionismus wirkt, so ist das Ziel, zu ergründen, ob das Bild des Grössten, das wir im Moment haben, stimmt... oder ob wir ein ganz anderes malen müssen. So wird dieser ultimative Reduktionismus womöglich das eigene Ende einläuten – was sogar irgendwie poetisch wäre.

(von Patrik Etschmayer/news.ch)

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