Landesrecht vor Freihandel
Die Schweizerische Volkspartei fordert «Landesrecht vor Völkerrecht». Am Dienstag stellte sie den Initiativtext den Medien vor. Dieser verlangt, dass «oberste Rechtsquelle der Eidgenossenschaft nur die Eidgenossenschaft» sei. Vorbehalten ist nur das zwingende Völkerrecht mit den Bestimmungen Gewaltverbot und Völkermord. Der Tenor aller SVP-Gegner: Um Völkerrechts Willen, nein und Hilfe! Dabei bietet diese Initiative eine einmalige Chance.
Es ist unverständlich, weshalb vor allem auch die Sozialdemokraten den SVP-Vorstoss nicht als Chance nutzen, um grundsätzlich mal über die internationalen Abkommen nachdenken, die tatsächlich die politische Gestaltungsmacht des einzelnen Bürgers und Bürgerin immer mehr einschränken. Aber vielleicht ist es so, dass die Sozialdemokraten gar nicht Wahlen und Argumente gewinnen wollen, sondern sich nur noch in ihrer Funktion als Fundamentalopposition gegen die SVP ihrer Identität sicher sind.
Lassen wir mal den klassisch fremdenfeindlichen Hintergrund der SVP-Initiative ausser Acht. Dies nicht zuletzt auch, weil die Migrationspolitik endlich unter politischen (Wirtschaftspolitik, Währungspolitik, Aussenpolitik, Rüstungspolitik, Gleichstellungspolitik u.a.) und nicht unter biologischen (Herkunftsland) Kriterien besprochen werden müsste. Also: Mal abgesehen von der grundlegenden fremdenfeindlich motivierten SVP-Politik: Könnte diese Initiative nicht den Anlass bieten, Landesrecht nicht nur vor Völkerrecht, sondern vor allem vor Freihandel und vor allen internationalen Abkommen wie beispielsweise dem geplanten Investitionsschutz für Firmen (der sich immer gegen öffentliche Güter, öffentliche Gesundheit, öffentliche Bildung und nachhaltige Wirtschaftspolitik richtet) zu schützen?
Denn alle grundsätzlichen Bedenken, die an der SVP-Pressekonferenz zur Initiative «Landesrecht geht vor Völkerrecht» in Bezug auf die Flüchtlingspolitik geäussert haben, sind auch ökologisch, sozial und für Chancengleichheit kämpfenden Menschen im Rahmen des internationalen Freihandelsrechts und und dessen Bestimmungen nicht unbekannt. Hätten beispielsweise die Deutschen eine derartige Initiative, Brüssel würde sich unendlich viel schwerer tun, das deutsche Verfassungsrecht brechende Rettungsschirme und Freihandelsabkommen wie die Privatisierung des Wassers voranzutreiben. Tatsächlich sind die politischen und demokratischen Mitspracherechte der Bürger und Bürgerinnen eines Landes durch internationale Rechts- und Abkommenspolitik massiv verletzt worden. Ich erinnere an die Bologna-Reform. Ein internationales Abkommen, welches das schweizerische Bildungssystem so auf den Kopf gestellt hat, dass die Schweiz mit einer derartigen De-Industrialisierungs-Bildungspolitik schon jetzt böse auf den Arsch fällt (siehe Fachkräfte- und Lehrstellenmangel). Diese, in den Hinterzimmern irgendwelcher farbloser europäischen und schweizerischen Bildungsminister geheim beschlossene Bildungsrevolution wurde von keinem einzigen europäischen Bürger und keiner Bürgerin politisch bestimmt, geschweige denn gutgeheissen oder abgelehnt. Dabei ist jede europäische und auch die schweizerische Verfassung sehr präzise, welche politischen Instanzen welches Verfügungsrecht über die Schul- und Universitätsbildung des Volkes haben.
Ich erinnere auch an die - vom Volk mit grosser Mehrheit angenommene - Alpeninitiative 1994. Diese ökologisch motivierte, mit klassisch-helvetisch fremdenfeindlichen Ingredienzien angerichtete Alpenschutzpolitik wurde nie auch nur im Ansatz umgesetzt.
Es gibt also durchaus für alle politischen Parteien und Orientierungen Anlass, über die demokratische Partizipation in einem Land und über dessen Verfassungsrecht nachzudenken. Dass der Anlass eine SVP-Initiative ist, sollte nicht davon ablenken, dass hier allenfalls Möglichkeiten einer sehr progressiven, nachhaltigen und ökologischen Politikgestaltung verborgen sind. Denn die Verrechtlichung der Welt hin zu einer Währungs- und Finanzunion (die unter der Ägide von IWF, Weltbank, Europäische Zentralbank und Wall Street mehr und mehr die Strukturen einer Währungs- und Finanzdiktatur aufweist), hebelt tatsächlich wichtige Grund- und Menschenrechte, teilweise sogar die Verfassung aus.
Deshalb müsste die Ratsmehrheit der SVP dankbar sein und die Sozialdemokraten sowieso. Denn Landesrecht, d.h. politische Mitsprache und Gestaltung und Durchsetzung der in der Verfassung verankerten Grund- und Menschenrechte, sollte tatsächlich nicht nur vor Völkerrecht, sondern vor allem auch bei internationalen Verträgen gelten. Zum ersten Mal stünden dann die Rechte, die uns Schweizern und Europäern bei der fortschreitenden Globalisierung klammheimlich enteignet werden, wieder in der öffentlichen Diskussion. Wie steht es wirklich mit der Liberalisierung von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen und dem geltenden Verfassungsrecht? Weshalb kann ein Freihandelsabkommen das Moratorium für gentechnisch veränderte Pflanzen aufheben? Weshalb kann der Investitionsschutz für ausländische Firmen beispielsweise den Mindestlohn, gesetzlich verordnete Krankenkasse und Arbeitszeit ausser Kraft setzen? u.a.
Das internationale Völkerrecht hat die ausländischen Menschen vor der Willkür der inländischen mit Fug und Recht geschützt. Und nicht nur diese. Wahrscheinlich hätten beispielsweise die Schweizerinnen ohne Europäischen Menschengerichtshof in Strassburg bis heute kein Stimmrecht. Es war nur dem Aufruhr von 1968 zu verdanken, als der Bundesrat tatsächlich die Europäischen Menschenrechtscharta mit dem «Vorbehalt des Frauenstimm- und -wahlrechtes» zu unterzeichnen beschloss, dass die Mehrheit der Schweizer Männer realisierte, dass sie sich doch einen derartigen Mist nicht vors Bauernhaus führen lassen würden. Doch das internationale Völkerrecht hat leider auch dazu geführt, dass neue Gesetze in Bereichen (Versicherungen, Eherecht, Religionsfreiheit, Arbeitsrecht) verabschiedet werden mussten, die oftmals nicht die Menschen- und Grundrechte, sondern vor allem die Bürokratie und die Entpolitisierung wichtiger Bereiche hin zu Rechtsstreitigkeiten befördert haben.
Also: Nicht das Völkerrecht oder die SVP sind das Problem, das Landesrecht auch nicht oder alle zusammen, sondern wie ein politisches Thema wiederum nur unter einem Aspekt, entpolitisiert und klischeehaft besprochen, diskutiert und auch von der Ratsmehrheit behandelt wird.
Hätte die staatspolitische Kommission des Nationalrats auch nur einen staatsrechtlichen Funken in der Diskussion um die Vereinbarkeit von Staats- und Völkerrecht gehabt, hätte sie folgenden Vorschlag als Ergänzung zur SVP-Initiative eingeworfen:
«Der Bund und die Kantone gehen keine internationalen und nationalen Verpflichtungen ein, die der Bundesverfassung widersprechen. Jede internationale Vereinbarung im Bereich von Völkerrecht, Freihandel und internationale Abkommen in Währung, Bildung und Wirtschaft unterstehen dem obligatorischen Staatsreferendum.»
Damit wäre allen klar geworden, dass nicht das internationale Völkerrecht die politischen Grund- und Menschenrechte der Schweiz und Europa bedroht, sondern die internationale Wirtschafts- und Währungspolitik, die sich doch bitte auch dem Landesrecht vor Freihandel und Börsenbestimmungen unterwerfen sollten. Das TTIP (geplante Freihandelsabkommen zwischen der USA und der EU, das Ermächtigungsgesetz des 21. Jahrhunderts) beispielsweise bedroht das «Landesrecht» sowie die geltenden Grund- und Menschenrechte und die Demokratie weit mehr, als dies die EMRK in ihrer Wirkung tun konnte oder kann.
(Regula Stämpfli/news.ch)
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