Man könnte sich beinahe sicher fühlen
Der gebürtige Schweizer Musiker und Filmemacher Roger Walch lebt und arbeitet seit über 15 Jahren in Japan. Vier Wochen seit dem verheerenden Erdbeben und der Tsunami-Katastrophe erlebt er den «längsten, bangsten und emotionalsten Monat seit Menschengedenken» für das Land der aufgehenden Sonne.
Ganz Japan rückt zusammen
Die Leute hier sind sichtlich betroffen von den Ereignissen, legen eine unglaubliche Solidarität mit den Opfern der Naturkatastrophe an den Tag und wollen unbedingt selbst etwas zur Besserung der Lage beitragen. Ganz Japan rückt zusammen. Bei allen ist die feste Entschlossenheit zu spüren, diese Krise gemeinsam zu bewältigen und zu überstehen. Aber auch Gefühle wie Ohnmacht und Wut werden geäussert - vor allem, wenn die Sprache auf die TEPCO kommt und auf die langsame, unentschlossene Reaktion der Regierung.
Noch immer herrscht im Nordosten berechtigte Angst vor Nachbeben. Über eintausend wurden bisher registriert. Die stärksten davon waren auch im restlichen Japan zu spüren. Trotzdem sind die noch offenen Hotels in den betroffenen Gebieten ausgebucht, weil unzählige Freiwillige aus ganz Japan bei den Aufräum- und Bauarbeiten helfen wollen. Alle grösseren Städte haben Hilfslieferungen und Personal hochgeschickt. Meistens handelt es sich um Angestellte der Polizei, der Feuerwehr oder der Stadtverwaltung. Mit speziell gekennzeichneten Bussen und LKWs fahren sie in die Krisenregion und versuchen zu helfen, wo Not am Mann ist. «Haltet durch, wir lassen euch nicht im Stich!» - so lautet die deutliche Botschaft.
Selbstverzicht
In Kyoto habe ich selten so viele Fahrräder auf den Strassen gesehen wie in den letzten vier Wochen. Die Fahrradabstellplätze platzen aus allen Nähten. Aus Solidarität wird Energie gespart. Bis vor wenigen Tagen wurde täglich von der grossen Benzinknappheit im Nordosten Japans berichtet. Also versuchen die Leute hier auf das Auto zu verzichten, soweit es geht. Auch Strom, Gas und Heizöl wird gespart, man übt Selbstverzicht. Grosse Luxuswarenhäuser haben das Nachsehen. Die Leute kaufen nur noch, was zum Leben absolut notwendig ist. Prominente rufen in TV-Werbespots zu Zusammenhalt und Zuversicht auf. In den gleichen Sendegefässen wird davon abgeraten Lebensmittel zu horten, damit keine Knappheit in den Krisengebieten entsteht. Es wird einem jeden Tag vor Augen geführt, dass Japan seit einem Monat im Ausnahmezustand ist.
Wirtschaftskrise auch in Kyoto
Obwohl sich die Katastrophe 700 - 900 km weiter östlich abgespielt hat, erfahren viele Geschäfte und Hotels in Kyoto die Krise am eigenen Leib. Zum Beispiel bleiben Reisegruppen und Sprachstudenten aus. Zwei Japanische Sprachschulen mussten ihre Pforten schon schliessen. Ein befreundeter Engländer, der einen Handy-Verleih für Touristen betreibt, muss Umsatzeinbussen von über 80 Prozent hinnehmen. Das Backpacker-Hostel einer Bekannten steht seit vier Wochen fast leer. Dabei wäre jetzt eigentlich die perfekte Zeit, eine Japan-Reise zu unternehmen. Da im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Touristen um 75% gesunken ist, findet man überall günstige Hotel-Angebote. Die Sehenswürdigkeiten präsentieren sich fast menschenleer. Wo man sich sonst auf die Füsse tritt, herrscht kein Gedränge und die sonst üblichen Warteschlangen bleiben aus. Langsam beginnen die europäischen Regierungen die Reisewarnungen für Japan zurückzunehmen. Die Schweizer Botschaft ist seit ein paar Tagen auch wieder nach Tokyo umgezogen.
Kirschblüten-Partys: Ja, aber.
Es ist Kirschblütenzeit. Ganz Japan ist in weiss und rosa getunkt. Eine Zeit, die normalerweise geprägt ist von ausgelassenen Hanami-Partys. Hanami - so nennt man in Japan das Betrachten der Kirschblüten. Tout Japon feiert jeweils Ende März/Anfang April unter der spektakulären Blütenpracht das Kirschblütenfest. Man sitzt auf Decken und Planen unter den Bäumen und vergnügt sich bei Lunchbox, Reiswein und Bier. Lieder werden gesungen, Sprüche werden geklopft, und die legendäre japanische Zurückhaltung weicht einer ausgelassenen und fröhlichen Stimmung. Man würde meinen, die diesjährigen Hanami-Partys wären eine gute Gelegenheit, sich mal abzulenken und die Sorgen um das Atomkraftwerk für ein paar Stunden zu vergessen. Dem umstrittenen Gouverneur von Tokyo, Shintaro Ishihara, sind die Partys aber ein Dorn im Auge. Er findet das Feiern von Kirschblütenfesten in Krisenzeiten respektlos. Deshalb hat er Schilder in den grossen Parks von Tokyo aufstellen lassen, die zu Zurückhaltung und Mässigung aufrufen und vom Festen abraten.
Nicht alle Japaner teilen seine Meinung jedoch. Eine Gruppe von Bürgermeistern in Westjapan macht explizit Werbung für die Hanami-Partys. Aber unter der Bedingung, ausschliesslich Sake aus Nordostjapan zu trinken, um der dortigen Wirtschaft etwas unter die Arme zu greifen und die Reiswein-Brauereien in den Katastrophengebieten zu unterstützen.
Kultur = Benefiz
Wenn kulturelle Veranstaltungen in Nippon in diesen Tagen überhaupt stattfinden, haben sie meistens Benefizcharakter. Landauf und landab treten japanische Künstler und Interpreten gratis an Benefizkonzerten auf und nehmen an Spendenaktionen teil. So hat beispielsweise «Johnny's Jimusho», die grösste Talentagentur Japans, alle unter Vertrag stehenden Stars für Fundraising-Veranstaltungen aufgeboten. Es gibt in Japan zurzeit keinen Kulturanlass, wo nicht ein Spendentopf die Runde macht.
Radioaktive Wolke
Vor drei Tagen ist erstmals eine radioaktive Wolke über uns hinweg und weiter nach Korea gezogen. Aus Angst vor radioaktivem Fallout - es regnete gleichentags auf der südkoreanischen Halbinsel - hatten vorsichtshalber 84 Kindergärten und 42 Grundschulen in der Umgebung der Hauptstadt Seoul geschlossen. Bei uns in Kyoto wurde noch nicht einmal eine Warnung ausgesprochen. Etwas zynisch formuliert: Wenn man sich nur auf die japanischen Nachrichten verlassen würde, könnte man sich beinahe in Sicherheit wähnen.
Anmerkung zum Autor:
Am Montag ist Roger Walch selbst an die Nordostküste Japans gereist. Als Kameramann wird er für eine französische Dokumentarfilmproduktion einem Team japanischer Ärzte ins Katastrophengebiet folgen und sich selbst vor Ort ein Bild der Lage machen.
(Roger Walch/news.ch)
Monatelang wird jetzt noch herumhantiert werden in Fukushima um am Schluss alles für immer zu versiegeln und für tausende Jahre eine strahlende Atomruine zu haben, die dann immer noch eine potentielle Gefahr darstellen wird.
Ich frage mich wirklich, wie es zum Beispiel in Frankreich ablaufen würde, wenn etwas Ernstes passieren würde.
Zuerst würde alles runtergespielt, bis es nicht mehr zu verschleiern ist, dann kommt das grosse Nichts. Wie will man allenfalls zehntausende Leute evakuiren inmitten Europa?
Die japanischen Behörden hoffen ja scheinbar, dass die Leute einfach nicht zu ihren Lebzeiten krank werden und man dann in vielen Jahren niemanden mehr hat zum Beschuldigen.
Derweil leben zehntausende, gar hunderttausende Japaner in stiller Angst, und werden irgendwann mal krank, wobei dann wieder gerätselt werden wird ob es einen Zusammenhang gibt mit dem Fallout.
Ist die Menschheit tatsächlich so blöd, solches immer noch aufsichzunehmen. Oder wird nach Fukushima (wobei dieses nach noch Jahre dauern kann) vielleicht auf breiter Basis ein Umdenken stattfinden auf politischer Ebene, damit der Wahnsinn aufhört.
Deutschland scheint sich ja recht heftig zu bewegen, wobei die es auch einfach haben im Vergleich zu uns zum Beispiel.
Ob diese Kehrtwende nachhaltig sein wird, muss sich noch zeigen.
Meiner Meinung nach ist aber jedes abgeschaltete oder nicht neu gebaute AKW besser als zu sagen, weil dieses oder jenes Land weiterhin AKW hat/baut, müssen wir auch.
Das ist auch keine Einstellung.
Wenn wir irgendwann gezwungen sein werden einen Teil unseres Stromes im Ausland einzukaufen (nicht Atomstrom), dann ist das in Kauf zu nehmen und immer noch sinnvoller, als neue AKW's zu bauen. Von der noch nicht gelösten Endlagerfrage mal ganz abgesehen.
Übrigens ist es bezeichnend für die Japanische Zivilisation, dass neben Fukushima direkt alte Brennstäbe gelagert werden, ein Endlager im AKW sozusagen. Der absolute Wahnsinn wie sich ja auch gezeigt hat. Aber so konnte sich Japan bisher um die Endlagerfrage drücken.
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